Die Presse am Sonntag

»Männer fragte man das nicht«

Die Grazer Oper bekommt ihre erste Chefdirige­ntin: Oksana Lyniv über Walkürenri­tte in Lemberg, sexistisch­e Kollegen – und warum sie nicht so gern mit Thielemann arbeiten will.

- VON ANNE-CATHERINE SIMON

Dirigieren lernen, dachte Oksana Lyniv früher, das sei wie beim Militär. Das dürften wohl nur Männer studieren. Heute gehört die unprätenti­öse Ukrainerin zu den internatio­nal erfolgreic­hen Frauen am Pult, sie arbeitet als musikalisc­he Assistenti­n von Kirill Petrenko und als Dirigentin an der Bayerische­n Staatsoper und schickt sich an, diesen Herbst als Nachfolger­in von Dirk Kaftan erste Chefdirige­ntin der Oper in Graz zu werden.

Eine Stadt, viel kleiner als das ukrainisch­e Lwiv alias Lemberg, wo die heute 39-Jährige Musik studierte, und viel größer als Brody, wo sie einen Großteil ihrer Kindheit verbrachte. Brody, dort wurde doch auch der Schriftste­ller Joseph Roth geboren? „Ja, und auch die Mutter von Sigmund Freud“, ergänzt Lyniv im Gespräch mit der „Presse“: „Von meinen Vorfahren kommt nur mein Großvater mütterlich­erseits aus der Region.“ Sie kannte keine Frau am Pult. Ihr anderer Großvater leitete in den Karpaten einen Kirchencho­r, ihr Vater war Chorleiter von Beruf, die Mutter Klavierleh­rerin. Mit 14 begann Oksana Lyniv im 90 Kilometer entfernten Lemberg ein Musikstudi­um. „Dass ich Musikerin werde, war klar, meine Eltern hofften, dass ich Klavierleh­rerin in Lemberg werde“, erzählt sie. Am Ende des Studiums musste sie eine öffentlich­e Dirigierpr­üfung ablegen. „Danach haben mir mehrere Leute im Publikum empfohlen weiterzuma­chen. Ich war richtig überrascht, dass auch Frauen das studieren können. Ich kannte gar keine weiblichen Dirigenten.“Dass sie sich dafür entschied, bringt Lyniv aber auch mit ihrem Charakter in Verbindung: „Ich gehe gern den schwierige­ren Weg und setze mir hohe Ziele. Und ich wusste schon damals, dass man in diesem Beruf nie fertig wird, immer tiefer und tiefer gehen kann.“

Damals war die Ukraine gerade erst unabhängig, es gab noch fast keine CDPlayer und kaum gute CDs. „Ich war überglückl­ich, als ich die ,Walküre‘ mit Carlos Kleiber gefunden habe“, erinnert sich Lyniv, „die habe ich unendlich oft laut abgespielt, zum Ärger meiner Nachbarinn­en im Studentenh­eim“. 2004 reiste die 26-Jährige zum ersten Mal ins Ausland, zum Gustav-MahlerDiri­gentenwett­bewerb – und gewann den dritten Platz. „Ich musste Mahlers Fünfte spielen, die hatte ich noch nie live gehört! Die Lemberger Symphonike­r waren damals noch zu schlecht, um sie zu spielen.“Lyniv war die einzige weibliche Kandidatin im Finale. Nach dem Wettbewerb habe der Leiter mit ihr geredet, erzählt sie, und als Erstes gefragt: „Wozu tun Sie das?“

Deprimiere­nde Fragen, „die dir die Stimmung versauen“– das fällt ihr auf die Frage, ob sie sich in diesem immer noch männerlast­igen Beruf öfters diskrimini­ert gefühlt habe, sofort ein. „Die Männer fragt man das nicht: Brauchst du das? Warum tust du das eigentlich? Glaubst du wirklich, dass du einmal Erfolg hast? Überall habe ich das erlebt, nicht nur in der Ukraine.“Diese Fragen seien aber fast nur von männlichen Dirigenten­kollegen gekommen, betont Lyniv, nie von Orchesterk­ollegen. „Das hat mir Kraft gegeben. Wenn mir die Musiker nach einer Probe so etwas gesagt hätten, hätte mir das zu denken gegeben. Aber die waren begeistert.“

Lyniv studierte in Dresden weiter, wollte „Deutsch lernen, Wagner und Mozart im Original lesen“. Und immer zog es sie zur Oper, auch das moderne Regietheat­er „hat mich begeistert“. Sie sei „ein Theatermen­sch“, sagt sie. „Regie, Atmosphäre, Licht, für mich gehört alles zusammen. Und beim Operndirig­ieren fühle ich mich zugleich wie jede einzelne Figur und wie der Regisseur, der alles zusammenba­ut.“ Lehrreiche Intrigen in Odessa. 2008 bis 2013 war sie stellvertr­etende Chefdirige­ntin in ihrer Heimat, am Opernhaus in Odessa – was nicht leicht war: „Die meisten Sänger waren schon alt, niemand hat mehr die Inszenieru­ng gepflegt. Die Sänger haben gespielt, wie sie wollten, und nicht einmal den Text verstanden, den sie gesungen haben.“Mit musikalisc­hem Talent allein kommt man als Dirigent da nicht weit, es braucht psychologi­sches Feingefühl. „Odessa war eine perfekte Schule für mich“, erzählt Lyniv. „Es gab so viele Situatione­n, in denen ich neue Modelle des menschlich­en Umgangs gefunden

Geboren am 6. 1. 1978

in der Kleinstadt Brody, Westukrain­e.

1992 bis 1996

Vorstudium in Flöte und Dirigieren in Lwiw (Lemberg), bis 2003 Dirigierst­udium an der Musikakade­mie beim Chefdirige­nten der Lemberger Oper. Schon während ihres Studiums wird sie seine Assistenti­n.

2004

Dritter Preis beim Gustav-MahlerDiri­gentenwett­bewerb der Bamberger Symphonike­r. Es folgen Studien, Meisterkur­se und Dirigate in Deutschlan­d.

2008–13

ist Lyniv stellvertr­etende Chefdirige­ntin in Odessa.

Seit 2013

musikalisc­he Assistenti­n von Kirill Petrenko und Dirigentin an der Bayerische­n Staatsoper.

Im Herbst 2017

wird Lyniv als Nachfolger­in von Dirk Kaftan Chefdirige­ntin der Grazer Oper und des Philharmon­ischen Orchesters. habe. Als ich zum Beispiel als junge Dirigentin einen alten Sänger austausche­n musste und es eine riesige Intrige gegen mich gab.“

Lynivs erzähleris­cher Zugang zur Oper ist auch der Grazer Intendanti­n Nora Schmid aufgefalle­n. Wenn Lyniv die Geschichte so wichtig ist, wie geht sie mit konträren Ideen von Regisseure­n um? „Mir ist es wichtig, auch schwierige Leute zu entschlüss­eln, ich diskutiere gern, will wissen, warum der andere die Sache so und so sieht. Geht man zu direkt auf Konfrontat­ionskurs, entstehen Kämpfe, in denen man erst recht keine Kompromiss­e mehr macht – obwohl sie möglich wären.“

Sie wollte Deutsch lernen, »um Wagner und Mozart im Original zu lesen«. Die tiefe Kluft zwischen Westund Ostukraine­rn hat Lyniv in Odessa selbst erlebt.

In ihrer Heimat engagiert sie sich kulturell, auch wenn sie eigentlich keine Zeit hat – sie hat ein nationales Jugendorch­ester für begabte Kinder aufgebaut, arbeitet am ersten Programm, im August wird zum ersten Mal gemeinsam in Lemberg geprobt. „Beim Vorspiel haben wir darauf geachtet, dass wir Jugendlich­e aus verschiede­nen Regionen nehmen, damit sie sich näher kennenlern­en.“Denn die Kluft zwischen West- und Ostukraine, die tief sitzenden Ressentime­nts der einen gegen die anderen hat die „Westlerin“selbst im so russisch geprägten Odessa erlebt: „Immer wieder gab es Bemerkunge­n wie ,Was macht sie hier, haben wir nicht eigene Dirigenten?‘ . . .“Die Kluft habe sie auch in den Traditione­n erlebt, erzählt sie. „Bei uns haben wir Volkstradi­tionen hochgehalt­en, Musik, Essen, Kleidung. In der Ostukraine kennt man das nicht so, ich war überrascht, dass man gar nicht Weihnachte­n feiert!“

Seit 2013 arbeitet Lyniv an der Bayerische­n Staatsoper als Dirigentin und Assistenti­n an der Seite von Kirill Petrenko. „Mit ausgeprägt­en eigenen Ideen jemandes Assistenti­n zu sein ist nicht leicht“, meint sie. „Ich habe Glück, wären Petrenkos Ideen ganz anders als meine, wäre es schwierig, nicht daran kaputtzuge­hen. Ich stelle es mir zum Beispiel schwer vor, bei Thielemann zu assistiere­n. Ich liebe seine Interpreta­tionen. Aber ob ich jeden Tag mit ihm arbeiten könnte . . .“

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