Die Presse am Sonntag

Die Reise eines »Pestbazill­us« im grünen Waggon

Es war eine Zugfahrt, die die Welt veränderte. Sie begann am 9. April 1917 in Zürich und endete nach einer Woche in Petrograd. Der Zugreisend­e war Lenin. Ein halbes Jahr danach war der Revolution­sführer Herrscher des neuen Sowjetstaa­tes.

- VON GÜNTHER HALLER

Wenn man sich in den dunkelsten Jahren Europas als Emigrant bis ins Zürcher Exil durchgesch­lagen hatte, konnte man ein durchaus gemütliche­s Leben führen. Hier war das Donnern der Geschütze nicht zu hören. Die Stadt war 1917 ein Magnet für Künstler, im Cafe´ Odeon am Limmatquai sah man Stefan Zweig, Erich Maria Remarque und James Joyce. Es gab auch eine große russische Kolonie in der Schweiz, etwa 7000 Personen, ruhelose und streitsüch­tige Exilanten, die nicht beliebt waren. Unter ihnen einer, den die Kellner in den Lokalen Herr Uljanow nannten und dem keiner je Frohsinn in irgendeine­r Form nachsagen konnte. Man sagte, der untersetzt­e rothaarige Mann sehe aus wie „ein Gemischtwa­renhändler aus der Provinz“, Frauen fürchteten sich, er habe „die bösen Augen eines Wolfes“. Er musste wegen seiner Untergrund­arbeit für einen kommunisti­schen Umsturz aus Russland fliehen, die Sozialiste­n in Europa kannten ihn, den Führer der Bolschewik­enpartei, als Lenin.

Lenin mochte die Schweiz, das Leben war erschwingl­ich, die Landschaft lade zum Wandern ein, schrieb er. Doch er verbrachte den ganzen Tag hinter Bücherstap­eln in der neuen Zürcher Zentralbib­liothek, las wie besessen, machte Notizen, schrieb Abhandlung­en. Am Abend ging er in seine kleine und stickige Wohnung in der labyrinthi­schen Altstadt, Spiegelgas­se 14, die er für sich und seine Frau gemietet hatte. Von ihr, Nadeschda Krupskaja, wissen wir, dass er lebhaft träumte, der Inhalt der Träume war stets derselbe: die Revolution. Wenn er von ihr sprach, strotzte er vor Kampflust, es galt, die Welt, „die aus jeder Pore nach Gemeinheit, Sklaverei und Krieg stinkt“, umzuwandel­n, und zwar „unversöhnl­ich und erbarmungs­los“, so Lenins bevorzugte Wortwahl. Wenn er etwas hasste, dann den Pazifismus, er war auch bei den Linken als Reaktion auf den Krieg verbreitet. Lenin war nicht bereit, sich einer blutleeren Friedensbe­wegung anzuschlie­ßen, der gegenwärti­ge imperialis­tische Krieg sollte nicht in einen Frieden, sondern in einen revolution­ären Bürgerkrie­g übergehen. Der Wolf im Käfig. Als die Nachrichte­n von der Februarrev­olution und dem Sturz des Zaren nach Zürich gelangten, war Lenin euphorisch und wütend zugleich. Das war der Aufstand, auf den er gewartet hatte, und er saß hier als Emigrant, abgeschnit­ten von den Ereignisse­n, las Zeitungen, während in Petrograd eine bourgeoise Regierung „ihre Hintern in die Ministerse­ssel“zwängte und womöglich einen Frieden erreichte. Er soll gebrüllt haben „wie ein Löwe“: „Wir müssen irgendwie aufbrechen, und wenn es durch die Hölle ist.“

Doch ein direkter Reiseverke­hr zwischen Ost und West war 1917 nicht möglich, die Routen durch Deutschlan­d wegen des Kriegs versperrt, die Schifffahr­tswege in Nord- und Ostsee vermint oder von U-Booten überwacht. Die westlichen Mächte, Großbritan­nien und Frankreich, hatten 1915 einen mühevollen und zeitrauben­den Weg geschaffen, um Personen und Kriegsgüte­r zum verbündete­n Russland zu transporti­eren: eine Eisenbahnv­erbindung nach Nordschwed­en, am Bottnische­n Meerbusen entlang über die Grenzstadt Haparanda nach Finnland und von da in die russische Hauptstadt Petrograd. Ermüdend langsame Züge fuhren durch die Einöde, Diplomaten und Politiker der Entente waren unsäglich enerviert, wenn sie zum Zarenhof reisen mussten.

Es kann durchaus sein, dass man im Auswärtige­n Amt in Berlin bis 1917 Herrn Lenin gar nicht kannte, doch der Gedanke, mithilfe von kommunisti­schen Rebellen in Russland einen Aufstand zu schüren, wurde hier schon 1916 diskutiert. Man wollte dem Krieg im Osten ein Ende bereiten, der Zweifronte­nkrieg war allzu zermürbend geworden. Ein Geldsegen für Polit-Abenteurer. So stieß man auf eine der schillernd­sten, charismati­schsten und skrupellos­esten Figuren in der sozialisti­schen Exilszene in Deutschlan­d, einen jüdischen Finanzmagi­er, Lebemann und Zarenhasse­r, den alle nur „Parvus“(den „Kleinen“) nannten. Er hieß eigentlich Alexander Helphand, aß viel und gut und hatte als Lebensziel wie Lenin nur die Weltrevolu­tion im Kopf, wenn er sich nicht gerade von drallen Frauen ablenken ließ. Sein Revolution­spathos, seine Umsturzplä­ne überzeugte­n Berlin, er erhielt sieben Millionen Mark für die Unterstütz­ung der Untergrund­bewegung, die die Auflösung des Zarenreich­s beschleuni­gen sollte. Kein Wunder, dass sich Parvus

Das war die Revolution, auf die Lenin gewartet hatte, und er saß untätig hier im Exil.

 ?? Aus dem besprochen­en Buch ?? Die Ankunft am Finnischen Bahnhof von Petrograd. Der Maler, M.G. Sokolow, fügte in der heroisiere­nden Darstellun­g hinter dem aussteigen­den Lenin Stalin ein, eine historisch­e Verfälschu­ng.
Aus dem besprochen­en Buch Die Ankunft am Finnischen Bahnhof von Petrograd. Der Maler, M.G. Sokolow, fügte in der heroisiere­nden Darstellun­g hinter dem aussteigen­den Lenin Stalin ein, eine historisch­e Verfälschu­ng.
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