Culture Clash
FRONTNACHRICHTEN AUS DEM KULTURKAMPF
Babyboom der Religionen. Ganz gegen die These von ihrem Bedeutungsverlust wachsen die Weltreligionen kräftig, allen voran der Islam. Eingestellt sind wir darauf noch lang nicht.
Die Wirklichkeit kann schonungslos sein, wenn sie die elegantesten Theorien zum Einsturz bringt. Etwa die Säkularisierungsthese, die besagt, dass das Fortschreiten der Moderne einen sozialen Bedeutungsverlust von Religion mit sich bringt. Diese These zerschellt dieser Tage wieder einmal. Das Washingtoner Pew Research Center hat Auswertungen seiner großen Studie über die Zukunft der Religionen vorgelegt. Das Ergebnis: Die Weltreligionen wachsen – und es sieht nicht so aus, als ob das aufhören würde. Am stärksten nimmt demnach bis 2060 der Islam zu (70 Prozent) und dann – mit einigem Abstand – das Christentum (34 Prozent).
Der stärkste Wachstumstreiber der Religionen ist der Geburtenüberschuss. Muslime sind im Schnitt sechs Jahre jünger als die Weltbevölkerung (und als die Christen). Und muslimische Frauen haben 0,5 Kinder mehr als der Weltbevölkerungsschnitt (Christinnen haben 0,2 Kinder mehr). So gab es in muslimischen Familien von 2010 bis 2015 weltweit um 152 Millionen mehr Geburten als Todesfälle. Bei den Christen waren es 116 Millionen. Austritt und Übertritt spielen da eine viel kleinere Rolle: Netto verlieren zurzeit fast nur die Christen Mitglieder durch Austritt, und das waren im genannten Zeitraum nur neun Millionen.
Die religiös Ungebundenen aber haben ihren Zenit bereits erreicht. Sie sind die ältesten und die mit den wenigsten Kindern. Sie werden bald einen Sterbeüberschuss haben und daher trotz des Zulaufs ehemaliger Christen (und zunehmend auch von Exmuslimen) kaum noch zulegen. Ihr Anteil an der Weltbevölkerung wird bis 2060 von derzeit 16 auf 12,5 Prozent zurückgehen. Das sind Weltphänomene – Europa schaut, isoliert betrachtet, ein wenig anders aus. Hier schwinden die Christen mit ihrer niedrigen Geburtenrate, wenn auch langsam. Heute teilen sich 100 Europäer in 73 Christen, 7 Muslime und 19 Ungebundene auf. 2060 werden es 62 Christen, 13 Muslime und 24 Ungebundene sein.
Das Weltthema ist also tatsächlich nicht die Säkularisierung, sondern das Wachstum des Islam. Und weil dem demografischen Druck auf Dauer auch Grenzzäune nicht standhalten, sind die entscheidenden Fragen für uns Nichtmuslime diese: Wird die Mobilität zwischen den Religionen zunehmen – und damit auch die Bereitschaft von Muslimen, dem Islam den Rücken zu kehren? Und noch wichtiger: Wird es einen aufgeklärten, mit dem Westen kompatiblen Islam geben?
Beides muss man nicht dem Zufall überlassen. Mir scheint allerdings, dass staatlicher Zwang und soziale Ausgrenzung hier kaum positive Beiträge leisten können. Der Autor war stv. Chefredakteur der „Presse“und ist nun Kommunikationschef der Erzdiözese Wien.