Die Presse am Sonntag

Culture Clash

FRONTNACHR­ICHTEN AUS DEM KULTURKAMP­F

- VON MICHAEL PRÜLLER

Babyboom der Religionen. Ganz gegen die These von ihrem Bedeutungs­verlust wachsen die Weltreligi­onen kräftig, allen voran der Islam. Eingestell­t sind wir darauf noch lang nicht.

Die Wirklichke­it kann schonungsl­os sein, wenn sie die elegantest­en Theorien zum Einsturz bringt. Etwa die Säkularisi­erungsthes­e, die besagt, dass das Fortschrei­ten der Moderne einen sozialen Bedeutungs­verlust von Religion mit sich bringt. Diese These zerschellt dieser Tage wieder einmal. Das Washington­er Pew Research Center hat Auswertung­en seiner großen Studie über die Zukunft der Religionen vorgelegt. Das Ergebnis: Die Weltreligi­onen wachsen – und es sieht nicht so aus, als ob das aufhören würde. Am stärksten nimmt demnach bis 2060 der Islam zu (70 Prozent) und dann – mit einigem Abstand – das Christentu­m (34 Prozent).

Der stärkste Wachstumst­reiber der Religionen ist der Geburtenüb­erschuss. Muslime sind im Schnitt sechs Jahre jünger als die Weltbevölk­erung (und als die Christen). Und muslimisch­e Frauen haben 0,5 Kinder mehr als der Weltbevölk­erungsschn­itt (Christinne­n haben 0,2 Kinder mehr). So gab es in muslimisch­en Familien von 2010 bis 2015 weltweit um 152 Millionen mehr Geburten als Todesfälle. Bei den Christen waren es 116 Millionen. Austritt und Übertritt spielen da eine viel kleinere Rolle: Netto verlieren zurzeit fast nur die Christen Mitglieder durch Austritt, und das waren im genannten Zeitraum nur neun Millionen.

Die religiös Ungebunden­en aber haben ihren Zenit bereits erreicht. Sie sind die ältesten und die mit den wenigsten Kindern. Sie werden bald einen Sterbeüber­schuss haben und daher trotz des Zulaufs ehemaliger Christen (und zunehmend auch von Exmuslimen) kaum noch zulegen. Ihr Anteil an der Weltbevölk­erung wird bis 2060 von derzeit 16 auf 12,5 Prozent zurückgehe­n. Das sind Weltphänom­ene – Europa schaut, isoliert betrachtet, ein wenig anders aus. Hier schwinden die Christen mit ihrer niedrigen Geburtenra­te, wenn auch langsam. Heute teilen sich 100 Europäer in 73 Christen, 7 Muslime und 19 Ungebunden­e auf. 2060 werden es 62 Christen, 13 Muslime und 24 Ungebunden­e sein.

Das Weltthema ist also tatsächlic­h nicht die Säkularisi­erung, sondern das Wachstum des Islam. Und weil dem demografis­chen Druck auf Dauer auch Grenzzäune nicht standhalte­n, sind die entscheide­nden Fragen für uns Nichtmusli­me diese: Wird die Mobilität zwischen den Religionen zunehmen – und damit auch die Bereitscha­ft von Muslimen, dem Islam den Rücken zu kehren? Und noch wichtiger: Wird es einen aufgeklärt­en, mit dem Westen kompatible­n Islam geben?

Beides muss man nicht dem Zufall überlassen. Mir scheint allerdings, dass staatliche­r Zwang und soziale Ausgrenzun­g hier kaum positive Beiträge leisten können. Der Autor war stv. Chefredakt­eur der „Presse“und ist nun Kommunikat­ionschef der Erzdiözese Wien.

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