Italiens neue Zunft der Schlangensteher
Krise und Bürokratie machen erfinderisch: Ein arbeitsloser Akademiker bescherte den Italienern ein neues Gewerbe. Die »Codisti« warten statt ihrer Auftraggeber viele Stunden am Amt. Dafür gibt es Kurse – und einen Kollektivvertrag.
Giovanni Cafaro machte gerade das, womit Italiener allzu oft ihre Lebenszeit vergeuden: Er stand in der Schlange. In einer verdammt langen noch dazu. Auf einem Postamt in Mailand, um Gebührenrechnungen zu begleichen, was auch einem Arbeitslosen wie ihm nicht erspart bleibt. Die Beamten an den Schaltern hatten gröbere Probleme mit der EDV, es ging nichts mehr weiter. Die anwesenden Mailänder, traditionsgemäß in Eile, wurden nervös und murrten immer lauter. Besonders eine attraktive Dame in seiner Nähe. Der Geistesblitz, der sein Leben änderte, kam in Form einer galanten Frage über ihn: „Signora, darf ich Ihnen das Warten abnehmen?“
Aus einer Frage wurden 5000, gedruckt neben seiner Telefonnummer auf Flugblättern, die Cafaro in den nächsten Tagen auf den Straßen der Stadt verteilte. Das war 2014, auf dem Höhepunkt der Wirtschaftskrise. Der Marketingmanager hatte seinen Job verloren, weil seine Firma ins Ausland abwanderte. So war seine Laufbahn in eine einjährige Warteschleife geraten, aus der er sich nun befreite – indem er einen neuen Beruf erfand: den professionellen Schlangensteher. Kampf dem Pfusch. Die Marktlücke sprang dem gelernten Kommunikationswissenschaftler mit einem MBA von der Mailänder Eliteuni Bocconi sofort ins Auge: Viel teure Arbeitszeit verlieren italienische Freiberufler, Unternehmer und ihre Angestellten in den verrosteten Mühlen einer aufgeblähten Bürokratie – in den Gängen des Katasteramtes, vor den Büros der Steuereintreiber oder an der Einwohnermeldestelle. Sie ziehen eine Nummer und warten. Und warten. Und warten. Und müssen ständig daran denken, was sie in den vielen Stunden am Amt alles an wichtigen Aufgaben erledigen hätten können. Der „Codista“macht sie wieder produktiv. Wie er auch Alte und Kranke von der Last befreit, sich zum Gesundheitsamt schleppen zu müssen. Und auch allen anderen, die sich einfach die ewige Warterei ersparen wollen, für wohlfeile zehn Euro die Stunde.
Nun wäre es nicht weiter verwunderlich, dass man in Italien auf eine solche Idee kommt – einem Land, in dem eine völlig ineffiziente Verwaltung auf überwachen Geschäftssinn und immenses Improvisationstalent trifft. Die Pointe liegt aber darin, dass sich der Erfinder seine Idee quasi patentieren ließ. Es bestand ja die große Gefahr, dass sie als Pfusch am Schwarzmarkt Furore macht. Um das zu verhindern, kämpfte der heute 45-Jährige für die Anerkennung der Schlangensteherei als offiziellen Beruf mit eigenem Kollektivvertrag – und hatte damit Erfolg. So gibt es für die „Codisti“heute genau fixierte Rechte und Pflichten. Sie legen als freie Gewerbetreibende ordnungsgemäße Rechnungen oder sind bei größeren Unternehmen fix angestellt. Wer für diesen Job eine Lizenz will, muss bei – aus dem süditalienischen Salerno stammenden – Cafaro einen Kurs belegen. In Amerika kopiert. Denn so primitiv, wie sie auf den ersten Blick erscheinen mag, ist die Tätigkeit keineswegs. Neben der Geduld als Kardinaltugend seiner Profession sollte der Codista auch Vertrauen erwecken. Er ist ja eine Art Treuhänder, der per Vollmacht Geschäfte erledigt, Geld in Obhut nimmt und zuweilen intime Geheimnisse erfährt. Vor allem aber sollte er mit den Tücken der Bürokratie vertraut sein, was in Italien fast den Rang einer Wissenschaft verdient. Denn die Warterei geht für den Laien von vorn los, wenn er ein Formular falsch ausfüllt, nicht alle nötigen Dokumente mitbringt oder sich am falschen Schalter anstellt.
Über 500 sind schon bei Cafaro in die Lehre gegangen, sie arbeiten über das ganze Land verteilt. Fast alle waren sie davor arbeitslos, viele Akademiker und frühere Buchhalter sind darunter. Die Bücher, mit denen sie die endlose Wartezeit überbrücken, haben oft Niveau. Die Idee macht Schule, auch im Ausland. In New York hat eine Agentur namens „Sold“aufgemacht, deren Angestellte sich auftragsgemäß die Beine in den Leib stehen – allerdings zu weit höheren Tarifen: 25 Dollar Basisgebühr für die erste Stunde, zehn Dollar für jede weitere halbe. Offenbar haben auch die Bewohner des Big Apple keine sonderlich schlanke Verwaltung.
Freilich: So neu die Profession ist, so antiquiert wirkt sie bereits, in Zeiten von E-Government und Onlinebanking. Warum noch Schlange stehen, wenn man alles bequem zuhause am Sofa erledigen kann? Aber den Codisti kommt zugute, dass die digitalen Uhren in ihrer Heimat weit langsamer gehen als anderswo. Weshalb Cafaro sei- nem Gewerbe noch zumindest zehn Jahre der Blüte prophezeit – genug Zeit, um es weiterzuentwickeln und neuen Bräuchen anzupassen. Die Beharrungskräfte folgen einer politischen Logik: Je mehr unproduktive Beamte es gibt, desto wichtiger sind sie als Wählergruppe. Sie wehren sich gegen ihre natürlichen Feinde: Behördenwebseiten und Computermäuse. Aber auch die Mentalität der Bürger spielt eine Rolle. Italiener gehen gerne unter Men- schen, in den öffentlichen Raum. Vor allem Ältere und Landbewohner lassen es sich nicht nehmen, ihre Pension oder ihr Gehalt selbst von der lokalen Bankfiliale zu holen – in bar, versteht sich. Die Widerstände der Kunden sind ein Hauptgrund dafür, warum Italiens Banken zu viele Filialen haben. Beim Warten in der Schlange kommen eben die Leute zusammen. Und vielleicht trifft man ja dabei auf eine Bella Signorina, der man behilflich sein darf.
Die Idee kam Cafaro am heutigen Arbeitsplatz: in der Schlange vor einem Schalter. Die Onlineverwaltung setzt sich in Italien kaum durch – was kulturelle Gründe hat.