Familiensaga mit Geld, Macht und Nazis
Seit vier Jahrzehnten mischen die Le Pens Frankreichs Politik auf. Bei der heute stattfindenden Präsidentenwahl könnte sich mit Marine Le Pen der tragikomische Clan erneut ein Stück Richtung Staatsführung vorarbeiten.
Am 2. November 1976 kam Marine Le Pen ein zweites Mal auf die Welt. An diesem Tag nämlich explodierte im 15. Arrondissement von Paris eine Bombe. Der Sprengsatz riss zwischen dem vierten und fünften Stock ein enormes Loch in die Fassade des Mehrfamilienhauses. Der von Unbekannten verübte Anschlag galt dem Rechtsextremisten Jean-Marie Le Pen, der in diesem Haus mit seiner Frau Pierrette und seinen drei Töchtern auf zwei Stockwerken wohnte. Die jüngste der drei Mädchen, die achtjährige Marine, wurde von ihren älteren Schwestern Marie-Caroline und Yann unter Trümmern und Glassplittern unversehrt, aber schwer geschockt entdeckt.
Sie begann zu ahnen, was es bedeutet, die Tochter von Jean-Marie Le Pen zu sein. In ihrer Autobiografie „A contre flots“erinnert sie sich an dieses Trauma: „Ich war acht, und ich begriff, dass mein Vater sterben könnte, und schlimmer noch, dass man ihn töten wollte.“Seither reagiert Marine Le Pen wie eine zu Unrecht Verfolgte reflexartig auf Attacken und Verdächtigung. Auch wenn gegen sie oder ihre Partei wegen Steuerbetrugs, Betrugs- oder Unterschlagungsaffären bei der Finanzierung ermittelt wird, wittert sie dahinter Komplotte und Intrigen des „Systems“.
Marine Le Pen war gerade vier Jahre alt, als der „Front national pour l’unite´ francaise“¸ (so die ursprüngliche Bezeichnung) 1972 auf Initiative der neofaschistischen Gruppe „Ordre nouveau“entstand. Als Vorbild diente das 1946 von Mussolini-Nostalgikern gegründete italienische MSI. Das Ziel der Gruppe war es, die nach dem Krieg völlig zerstrittenen und den verlorenen Kolonialkriegen politisch isolierten Fraktionen der nationalistischen Rechten in Hinblick auf die kommenden Wahlen in einer einigermaßen respektablen Formation zu vereinen.
Der damals 44 Jahre alte Jean-Marie Le Pen war die ideale Besetzung für die Rolle eines Vorsitzenden einer solchen Auffangstruktur für Alt- und Neofaschisten, reaktionäre Monarchisten, religiöse Ultrakonservative, ehemalige Mitglieder der Untergrundarmee OAS und andere Rechtsradikale. Er war 1956 auf der Liste der Kleinbürgerbewegung des Rechtspopulisten Pierre Poujade als jüngster Abgeordneter in die Nationalversammlung gewählt worden. Kurz darauf aber nahm er Urlaub, um als Nachrichtenoffizier einer Fallschirmspringereinheit am Kampf gegen die algerische Unabhängigkeitsbewegung teilzunehmen. Was seine dortige Tätigkeit war, nannte er 1962 in der Zeitung „Combat“ungeniert beim Namen: „Wir haben gefoltert, weil wir dies tun mussten.“
Nach seiner Rückkehr ins Parlament machte er auch aus seinen antisemitischen Ressentiments kein Hehl, indem er dem (jüdischen) Premierminister Pierre Mend`es France ins Gesicht warf, er wecke bei ihm „eine geradezu physische patriotische Abscheu“. Dass dies kein einmaliger Ausrutscher war, belegen seine unzähligen antijüdischen Provokationen oder Versuche zur Verharmlosung des Holocausts, die nur zum Teil gerichtlich geahndet wurden – namentlich seine unvergessene Bemerkung, die Gaskammern seien ein „Detail in der Geschichte des Zweiten Weltkriegs“. Das ist einer der wenigen Punkte, in dem sich die heutige FNChefin, seine Tochter Marine, von ihm distanziert hat.
Wie wenig Berührungsängste mit dem Nationalsozialismus ihr Vater hat- te, belegen nicht nur seine politischen Weggefährten und FN-Mitbegründer, unter denen sich mehrere Ex-Mitglieder der Waffen-SS und viele Nostalgiker des Nazi-Kollaborationsregimes von Marschall Petain´ befanden, sondern auch sein 1963 gegründeter Verlag SERP. Dieser vertrieb unter anderem Nazi-Marschlieder sowie Reden von Mussolini, Hitler und Petain.´ Wegen einer von SERP vertriebenen Schallplatte mit Gesängen des Dritten Reichs wurde er 1968 für Verherrlichung von Kriegsverbrechen verurteilt. Startkapital geerbt. Vielleicht wäre Le Pen eine Randfigur und seine Partei unbedeutend geblieben, wenn er nicht eine geradezu verdächtig opportune Erbschaft gemacht hätte. Hubert Lambert, ein FN-Sympathisant der ersten Stunde und reicher Erbe eines Familienunternehmens, hinterließ Le Pen ein Vermögen von schätzungsweise 30 Millionen Francs und sein Anwesen Montretout in Saint-Cloud mit einer Villa und mehreren Nebengebäuden in einem großen Park. Damit waren die Partei und die Familie saniert. Die Villa, in der drei Töchter aufwuchsen, wurde das Hauptquartier des Familienunternehmens FN. In der heute etwas heruntergekommenen Villa wuchs auch Yanns Tochter Marion Marechal-´ Le Pen auf. Diese Nichte der heutigen Parteichefin ist derzeit eine der beiden Abgeordneten des FN und gilt bereits als Zukunftshoffnung der Le-Pen-Dynastie.
1974 kandidierte Le Pen erstmals bei Präsidentschaftswahlen und erreichte 0,74 Prozent. Schon bei den Europawahlen von 1984 schreckten die FN-Kandidaten mit fast 11 Prozent jedoch die anderen Parteien auf. Mit der zunehmenden Zahl der Arbeitslosen in Frankreich wuchs das Echo auf die fremdenfeindlichen Kampagnen der extremen Rechten. Dank der vom Sozialisten Francois¸ Mitterrand vorübergehend eingeführten Verhältniswahl zog Le Pen 1986 mit einem nationalen Wahlergebnis von 9,65 Prozent zusammen mit 34 Parteikollegen als Abgeordneter in das Parlament ein. Der Schock
Jean-Marie Le Pen
ist Gründer des Front National. Er war zwischen 1972 und 2011 dessen Vorsitzender.
Marie-Caroline,
seine älteste Tochter, war Jean-Maries Wunschkandidatin für die Thronfolge. Sie fiel ihrem Vater aber bei einer parteiinternen Meuterei in den Rücken.
Marine
musste 2011 die Partei übernehmen. Aber auch sie distanzierte sich wenige Jahre später von ihrem Vater und ließ ihn sogar aus der Partei ausschließen. Dennoch finanzierte er ihren Wahlkampf.
Marion Mar´echal
ist die Nichte des FNGründers. Sie gilt als Zukunftshoffnung des Clans. war so groß, dass danach wieder das traditionelle Mehrheitswahlrecht galt, das dem FN (wie anderen kleinen Parteien ohne Bündnispartner) bisher kaum Chancen auf Sitzgewinne ließ.
Ein herber Schlag war für Jean-Marie Le Pen die Spaltung der Partei 1998 nach einer von der Nummer zwei des FN, Bruno Megret,´ angeführten Palastrevolution. Bitter war es für Le Pen, dass sich auch seine älteste Tochter Marie-Caroline mit ihrem Partner der Meuterei anschloss. Sie hatte er immer als seine legitime Thronfolgerin betrachtet. Die Rolle der „Dauphine“fiel nun Marine zu. Sie hatte eigentlich keine Parteikarriere im Sinn. Als Jurastudentin an der Pariser Fakultät Assas hatte sie sich statt dessen einen soliden Ruf als Partygängerin in den Nachtklubs der Hauptstadt erworben. Für eine Le-Pen-Tochter ist die Politik Teil der Familie. An der Uni verkehrte sie denn auch mit den rechtsradikalen Aktivisten des GUD (Groupe union de-´ fense), für die ihr Vater vergleichsweise ein gemäßigter Rechtsnationaler war. Ihre Kontakte zu diesen Rechtsradikalen sind hinter der Fassade einer nach außen hin propagierten „salonfähigen“Partei nie ganz abgerissen.
Als Le Pen 2010 mit 82 Jahren ankündigte, er wolle die Parteiführung abgeben, gab er seiner Jüngsten vertrauensvoll den Vorzug vor seinem alten Kampfgefährten Bruno Gollnisch. Er dachte, dass er so im Hintergrund die Fäden ziehen könnte. Marine Le Pen wurde im Jänner 2011 von einem Kongress zur Parteichefin erkoren. Wer hätte damals gedacht, dass sie ihrem Vater in den Rücken fallen würde: 2015 wurde der Parteigründer mit ihrer Zustimmung aus dem FN ausgeschlossen, nachdem er in einem Interview erneut das Petain-´Kollaborationsregime verherrlicht hatte. Am wenigsten überrascht von diesem politischen Vater- mord war ihre Mutter Pierrette, die schon immer gesagt hatte, ihre Jüngste sei ein „absoluter Klon ihres Vaters“.
Der Patriarch war für die ehrgeizige FN-Chefin ein Fossil geworden. Während Jean-Marie Le Pen revanchistisch in die Vergangenheit zurückblickte und sich mit seinen rassistischen Sprüchen in der Rolle des rechtsradikalen Bürgerschrecks gefiel, wollte sie mit einem populären fremdenfeindlichen und nationalistischen Programm an die Regierungsmacht. Er malte den Teufel an die Wand – sie dagegen wollte diesen Schwefelgeruch loswerden. Doch leicht ließ sich die Nabelschnur nicht kappen. Da selbst die ihrem Idol Putin nahestehenden Banken in Russland ihr dieses Mal keinen Kredit für die Wahlkampagne gewährten, musste die FN-Kandidatin ihren Vater anpumpen, der ihr mit Genugtuung seinen „Kriegsschatz“zur Verfügung stellte. Abgenutzte Abscheu. Den meisten Franzosen und Französinnen kommt es heute vor, als ob sie die Familiensaga der Le Pens in vertrauter Weise begleitet wie eine der bekannten TV-Serien oder die immer neuen Geschichten der Grimaldis in Monaco in der Regenbogenpresse. Die ursprünglich starke Ablehnung ihrer Hass-Ideologie hat sich mit der Zeit abgenutzt. Rund ein Drittel der Wähler findet heute an den Vorschlägen des FN nichts Erschreckendes oder heißt sie sogar gut. Die Leute nennen die FN-Kandidatin längst beim Vornamen wie eine alte Bekannte.
Das letzte Kapitel in dieser politischen Familiensaga, die Erlangung der Macht im Elysee,´ bleibt für sie noch zu schreiben. Wenn es ihr im jetzigen Anlauf nicht gelingt, wartet mit ihrer Nichte Marion bereits die Nächste aus dem Clan, um die Dynastie fortzusetzen. Zum ersten Mal seit der Gründung des FN wird heute die Möglichkeit, dass diese rechtsradikale Bewegung in Frankreich an die Macht kommt, nicht mehr ausgeschlossen.
Es ist jedoch nicht sicher, dass die Franzosen ausgerechnet dieses Ende der Le-Pen-Story in ihren Geschichtsbüchern lesen wollen.
Vater Le Pen provozierte mit Antisemitismus, seine Tochter distanzierte sich davon. Marine verkehrte als Studentin mit Rechtsradikalen und pflegt diese Kontakte heute noch.