»Schieße manchmal übers Ziel hinaus«
Stürmerlegende Rudi Völler hat so gut wie alles erreicht. Als Sportdirektor bei Bayer Leverkusen kämpft er nun mit einer Krise. Warum die Saison verflucht ist und er nach Spielen zum Streiten aufgelegt ist, erzählte er der »Presse am Sonntag«.
Rudi Völler sitzt entspannt in der Lobby eines Hotels auf der Turracher Höhe. Seine römische Frau Sabrina verbringt hier in der Karwoche mit Freunden ein paar Urlaubstage. Völler ist ihr spontan nachgefahren. „Am Wochenende haben wir gegen Leipzig noch in der letzten Minute ein Tor kassiert und verloren. Wie bitter. Mit ein wenig Abstand sieht man das dann entspannter. Deshalb habe ich kurzfristig entschieden, dass ich für zwei Tage herkomme.“Und, sind Sie runtergekommen, Herr Völler? Die deutsche Spielerlegende lacht: „Tja, runterkommen, und dann wird man von einer Journalistin beim Frühstück angesprochen.“Der Sportdirektor von Bayer Leverkusen ist dennoch bereit, mit der „Presse am Sonntag“ein spontanes Interview zu führen. Die Presse: Wenn man den Namen Rudi Völler erwähnt, rattert jeder, der sich nur ein bisschen für Fußball interessiert, eine ganze Latte an Superlativen herunter. Wie fühlt es sich an, eine lebende Legende zu sein? Rudi Völler: Lebende Legende? Den Ausdruck mag ich eigentlich nicht. Das ist einfach Teil meines Lebens. Ich war ein ganz guter Fußballer, bin danach Trainer gewesen und seitdem im Management-Bereich bei Bayer Leverkusen. Sie sind der meistbesungene Mann des deutschen Fußballs. Ach, dieses Lied („Es gibt nur einen Rudi Völler“, Anm.). Das entstand bei der WM 2002, das war ganz schön damals, aber alles zu seiner Zeit. Hin und wieder wird es gesungen, bei Auswärtsspielen. Die Leute meinen das lieb. Das Lied selbst kann man dann irgendwann nicht mehr hören. Sie haben sportlich so gut wie alles erreicht. Sie wurden 1990 Weltmeister, haben 1993 mit Olympique Marseille die Champions League gewonnen, wurden als Teamchef von Deutschland 2002 Vize-Weltmeister. Welche Erfolge wollen Sie noch feiern? Das hängt immer davon ab, bei welchem Klub man arbeitet. Es ist ja alles relativ. Wenn du bei Bayern München einen Fünfjahresvertrag unterschreibst, wirst du vier Mal deutscher Meister, ob du willst oder nicht, das kannst du gar nicht verhindern. Jeder Klub hat seine eigenen wirtschaftlichen Möglichkeiten, und daraus resultieren auch sportliche Erfolge, wenn man gut arbeitet und Fehler vermeidet. Man muss sich immer den Möglichkeiten entsprechende Ziele setzen. Für uns, für Bayer Leverkusen, ist wichtig, dass wir unter die ersten sechs, sieben Klubs kommen. Die Champions League haben wir in den vergangenen sechs Jahren fünf Mal geschafft, dieses Jahr sieht es nicht so gut aus. Für die Europa League besteht noch eine minimale Chance. Wenn man für einen Klub wie Leverkusen arbeitet, dann ist es ein Riesenerfolg, wenn man unter die ersten vier kommt. Das ist höher einzuschätzen, als wenn Bayern München deutscher Meister wird. Ist Ihre Mannschaft in der Saison unter den Möglichkeiten geblieben? Ja, bis jetzt war das sicherlich eine enttäuschende Saison, das muss man korrekterweise sagen. Wir sind mit viel Optimismus reingestartet. Letztes Jahr waren wir Dritter, davor Vierter, wir haben uns gut verstärkt. Dann haben wir leider das erste Spiel verloren, es gab etliche Verletzungen, wie eben alles zusammenkommt im Fußball. Jetzt sind wir so im Niemandsland, als Elfter oder Zwölfter. Sie sind enttäuscht. Enttäuscht sind wir alle, wir haben uns mehr erwartet. Aber das sind Dinge, die zum Sport dazugehören. Man erreicht Ziele nicht automatisch, der gesamte Mechanismus muss funktionieren. Bei uns ging vieles schief, schon in der Hin-
1960
Geboren in Hanau als einer von vier Söhnen.
1977
Debüt in der Profimannschaft des Zweitligisten Kickers Offenbach; 1980 erste Liga mit 1860 München.
1982–1987
Werder Bremen, 1983 Torschützenkönig. Danach AS Roma (bis 1992) Olympique Marseille (bis 1994) und Bayer Leverkusen (bis 1996).
Nationalteam
Debüt 1982, letzter Einsatz bei der WM 1994. 47 Tore in 90 Einsätzen.
Sportliche Erfolge
1991 Pokalmeister mit Roma. ChampionsLeague-Sieger 1993 mit Marseille. Weltmeister 1990. Als Teamchef Vizeweltmeister 2002.
Seit 2005
Sportdirektor bei Bayer Leverkusen. runde. Wir haben viele Elfmeter verschossen, fünf hintereinander, immer bei Spielständen kurz vor Schluss, wo wir wirklich Punkte geholt hätten. Das hat natürlich wehgetan. Kann man bei fünf vergebenen Elfmetern in Folge von einem Fluch reden? Wir haben eine verfluchte Saison, das ist sehr ungewöhnlich. Was die Sache besonders tragisch macht: Wenn du 3:0 hinten liegst, und du verschießt den Elfmeter, dann ist das ja kein Problem, das fällt in die Rubrik scheißegal. Wenn die Spiele aber ganz knapp sind, und kurz vor dem Schluss wird ein Elfmeter nicht verwandelt, dann ist das besonders bitter. Diese Saison ist der Wurm drin, wir müssen sie jetzt einfach möglichst vernünftig zu Ende bringen. Ein paar Punkte brauchen wir schon noch. Zu den verschossenen Elfern kamen auch noch umstrittene Schiedsrichterentscheidungen hinzu. Ich vertrete grundsätzlich die These, dass es sich bei den Fehlentscheidungen innerhalb einer Saison unter dem Strich ausgleicht. Das sieht man natürlich unmittelbar nach dem Spiel etwas anders. Da habe ich noch viel Adrenalin in mir und bin ein bisschen gereizt, aber mit einem gewissen Abstand geht es dann. Sie sind für Ihre Emotionalität bekannt. Es gibt zwei legendäre Vorfälle, über die Sie aber nicht mehr sprechen wollen. Sie meinen das mit Frank Rijkaard 1990. (Während der WM wurde Völler von dem niederländischen Nationalspieler mehrmals angespuckt. Nach seiner Beschwerde beim Schiedsrichter wurden Völler und Rijkaard vom Feld geschickt, Anm.) Egal, wo ich hinkomme, ich werde darauf angesprochen, weltweit. Und im deutschsprachigen Raum auch noch auf diese Sache mit Waldemar. (Völler hatte 2002 nach einem enttäuschenden Unentschieden Deutschlands gegen Island im ARD-Interview die Kommentatoren kritisiert und unter anderem zu Moderator Waldemar Hartmann gesagt: „Müssen wir uns denn alles gefallen lassen? Du sitzt hier locker auf deinem Stuhl, hast drei Weizenbier getrunken.“) Das ist alles halb so wild. Für Rijkaard war es danach problematischer als für mich. Er ist ein anständiger Kerl, ich hatte mit ihm nie ein Problem. Er hat damals einfach die Nerven verloren, und wir haben uns im Lauf der Jahrzehnte sporadisch getroffen. Die Sache hat ihm sehr geschadet, es hat ihn mehr belastet als mich. Er hat darunter gelitten, bis heute. Er hatte Anfragen von der deutschen Bundesliga. Das war wohl mit ein Grund, warum er nicht nach Deutschland gekommen ist. Natürlich polarisiert man manchmal, egal, worum es geht. Ich weiß, dass ich manchmal übers Ziel hinausschieße, das tut mir dann am nächsten Tag schon ein bisschen leid, so wie erst unlängst mit dem Ex-Schiri Gagelmann – über den habe ich ja gesagt, er sei eine Pflaume. Das ist mir so rausgerutscht. Ich habe ihn dann später angerufen und gesagt, dass es nicht so gemeint war. In Ihrem Klub spielen derzeit drei Österreicher. Wie sind Sie mit ihnen zufrieden? In Österreich herrscht Enttäuschung über die schwache Leistung von Aleksandar Dragovi´c im Nationalteam. Steckt er in einer Krise? Das sind alles Menschen. Auf jedem Spieler lastet Druck. Manche sind sensibler, verlieren schneller an Selbstvertrauen als andere. Die muss man dann so anpacken, dass sie wieder gut spielen. Aleksandar Dragovic´ hatte anfangs Schwierigkeiten, dann hat er ein paar tolle Spiele gemacht. Er hat sich verletzt und ist wieder in ein kleines Loch gefallen. Ich bin überzeugt davon, dass Drago im nächsten Jahr für uns noch sehr wertvoll werden wird. Julian Baumgartlinger sowieso, das ist ein ganz, ganz feiner Kerl, ein Superprofi. Ramazan Özcan hat auch schon ein paar Spiele bei uns gemacht. Er hat eine gute Ausstrahlung, er ist ein erfahrener, älterer Spieler. Wir haben eine sehr junge Mannschaft, deshalb haben wir ihn bewusst ausgewählt. Man braucht einen guten zweiten Mann, den man ohne Bauchschmerzen immer bringen kann. Das ist bei Rambo der Fall, er ist ein toller Torwart. Verfolgen Sie den österreichischen Fußball? Die Liga nicht so intensiv, die Nationalmannschaft schon. Dass es schwer wird, sich für die WM zu qualifizieren, das weiß man auch in Österreich. Da wurden viele Punkte abgegeben, das wird problematisch. Aber es ist immer noch möglich. Sie gelten als jemand, der sich durch eine besondere Treue zu Trainern und Spielern auszeichnet. Es heißt, Sie werfen sich noch vor sie, wenn das keiner mehr machen würde. Gibt es keinen Punkt, bei denen es Ihnen auch reicht? Den eigenen Klub und die Spieler in Schutz zu nehmen, das ist das Eine, das vertrete ich nach außen. Die Spieler sollen sich wohl bei uns fühlen, beschützt. Das bedeutet aber nicht, dass man nicht intern, unter vier oder sechs Augen, einem Spieler mal seine Meinung sagt. Da wird es schon auch direkt und lauter, wenn sich etwa jemand daneben benimmt und Fehler macht. Man darf nicht vergessen: Das sind lauter junge Menschen. Ich weiß aus eigener Erfahrung, dass man in dem Alter gefährdet ist, dass man Fehler macht, und das muss man ansprechen. Sie haben gesagt, Sie schlafen schlecht, wenn es dem Klub nicht gut geht. Sie nehmen die Sorgen mit nach Hause? Das macht doch jeder. Wer sagt, er nehme die Probleme nicht mit nach Hause, der lügt. Man fährt nicht um 17 Uhr heim und kümmert sich nicht mehr um seinen Job. Die erste Nacht nach einem Spiel ist nicht einfach, da geht einem viel durch den Kopf. Tage danach schaut man wieder nach vorn. Der Terror hat nun auch den Fußball voll erfasst, die Stadien gleichen Hochsicherheitstrakts. Hat man das im Kopf, dass man ein potenzielles Ziel sein kann? Ja, natürlich. Wir bewegen ja Massen, Woche für Woche. Da ist klar, dass du ein Ziel für einen Anschlag sein kannst. Damit muss man heute leben. Das ist Teil des Alltags geworden. Man muss gewisse Vorsichtsmaßnahmen treffen, aber Angst ist kein guter Ratgeber. Wenn man ständig Angst hat, dann ist das ist ja kein Leben mehr. Man kann gewisse Risken meiden, aber das tägliche Leben sollte man nicht davon abhängig machen. Es gibt ja nur eines. Sie hatten gerade Geburtstag, ist das Älterwerden ein Thema? Das gehört zum Leben dazu. Als aktiver Spieler merkt man, irgendwann ist es vorbei, das habe ich akzeptiert. Es wird alles ein bisschen weniger. Jetzt bin ich 57. Wichtig ist, dass man fit bleibt. Sind Sie auf Facebook oder Twitter? Nein, und ich kann Ihnen versprechen, dass ich das nie sein werde. Es gehört zu unserem Job, dass man mal öfter auf sein Handy schaut oder ins Internet geht, aber alles hat Grenzen. Diese Abhängigkeit von Facebook, und dieses Mitteilungsbedürfnis, etwas zu posten, etwa, dass man gerade einen Cappuccino getrunken hat, die habe ich nicht, und die werde ich auch nicht verstehen. Ich werde das definitiv nie machen. Wie kommunizieren Sie am liebsten? Wer meine Nummer hat, kann mich anrufen.