Aus stillem Elternhaus
Sie sind in der hörenden wie auch in der gehörlosen Welt zu Hause – und gehören dadurch manchmal in keiner ganz dazu: Die meisten Kinder tauber Eltern können ganz normal hören. Unter den Barrieren, auf die Gehörlose stoßen, leiden aber auch sie.
Als Isabella Rausch drei Jahre alt war, rief sie bei Gericht an, um einen Termin für ihre Eltern zu verschieben. „Ich kann mich noch erinnern, wie klein ich war und wie hoch oben das Telefon“, erzählt sie heute. Einige Jahre später war sie beim Elternsprechtag für ihren kleinen Bruder dabei. „Er ist so frech, er wird suspendiert“, sagte die Direktorin. Und: „Sie müssen härter eingreifen.“Isabella Rausch, die ihren Bruder in Schutz nehmen wollte, übersetzte für ihre Mutter in Gebärdensprache: „Er war halt ein bisschen schlimm. Er muss braver werden.“
Die Rolle der Familiensprecherin übernahm sie schon früh. „Es gab keinen Tag, an dem ich nicht vermittelt habe“, erzählt sie. Die heute Vierzigjährige ist als älteste Tochter von gehörlosen Eltern in einem Gemeindebau in Wien-Simmering aufgewachsen. Ihre Muttersprache ist die österreichische Gebärdensprache (ÖGS). Zu Hause wurde gebärdet, mit den Großeltern gesprochen, die Geschwister verwendeten untereinander eine Mischform.
CODAs (Children of Deaf Adults) werden sie genannt, wie viele es von ihnen in Österreich gibt, ist nicht erfasst – es dürften aber viele sein: Denn Gehörlosigkeit ist selten erblich, über 90 Prozent der gehörlosen Eltern haben hörende Kinder. 8000 bis 10.000 gehörlose Menschen gibt es in Österreich. Rausch schätzt, dass die Zahl der CODAs ähnlich hoch sein dürfte.
Ihre Perspektive ist aber weder in der hörenden Welt noch in der der Gehörlosen ein großes Thema. „Wir sind physisch hörend und kulturell gehörlos“, sagt Rausch. CODAs sind in zwei Welten zu Hause und gehören doch in keiner der beiden ganz dazu: Sie sind vollkommen vertraut mit den Werten und Verhaltensnormen der Gehörlosen-Community, von der sie aber doch ein entscheidendes Merkmal trennt. „Mit sieben habe ich gemerkt, dass ich anders bin. Dass es andere gibt mit ähnlichen Erfahrungen, wurde mir erst viel später klar“, sagt Rausch. Sie arbeitet heute als ÖGS-Dolmetscherin, war vier Jahre an der Seite der gehörlosen Nationalratsabgeordneten Helene Jar-
Isabella Rausch
wuchs in Wien als älteste Tochter gehörloser Eltern auf, die österreichische Gebärdensprache ist ihre Muttersprache. Heute arbeitet sie als Dolmetscherin und ist Psychotherapeutin in Ausbildung. In ihrer Praxis betreut sie auch CODA-Gruppen (Children of Deaf Adults). bis 10.000 gehörlose Menschen leben laut einer Schätzung des Österreichischen Gehörlosenbundes in Österreich. der gehörlosen Eltern haben hörende Kinder. mer. Daneben betreibt sie eine Psychotherapiepraxis, betreut darin auch Gruppen von Kindern und Jugendlichen, die ebenfalls bei gehörlosen Eltern aufwachsen, und organisiert heuer ein CODA-Sommercamp. Sich untereinander auszutauschen hilft den Kindern, die mit der Identitätsfindung hadern und sich im Alltag allein gelassen fühlen. Plötzlich stillsitzen. Den ersten Kulturschock erleben viele beim Eintritt in den Kindergarten oder die Schule – wenn ihr Alltag, der von ständiger Bewegung geprägt ist, jäh durchbrochen wird. „Schwangere gehörlose Mütter bewegen sich zwölf Stunden am Tag, das Kind schaukelt ständig mit“, sagt Rausch. „Dann kommt es auf die Welt, und die Mutter gebärdet mit dem Kind auf dem Arm.“Jede Kommunikation zu Hause funktioniert über Bewegung, dann müssen die Kinder plötzlich stillsitzen – und auf rein akustische Reize reagieren, auch ohne Blickkontakt. „Was die meisten vergessen: dass man Hören auch lernen muss“, sagt Rausch. Und erzählt, dass sie sich anfangs nicht angesprochen fühlte, wenn man ihr von hinten etwas zurief.
Bei einigen CODAs kommen noch Sprachschwierigkeiten dazu. Die wenigsten bekommen formellen Unterricht in ihrer Muttersprache, auch Rausch wurde nie die Grammatik der ÖGS gelehrt, ihr Wortschatz blieb zunächst beschränkt – wodurch sie sich auch im Deutschunterricht schwertat. Ein Grund für sprachliche Defizite ist oft, dass die Eltern die Gebärdensprache selbst nicht auf hohem Niveau beherrschen. In den Gehörlosenschulen war sie lang verboten, noch heute wird dort meist nach der „oralen Methode“unterrichtet: Die Kinder sollen lernen, von den Lippen abzulesen und so gut wie möglich zu sprechen – ohne selbst ein Wort davon hören zu können. Sprachentwicklung und Wissensaufbau leiden darunter: Nach dem Ende der Pflichtschule haben die meisten Gehörlosen den Wortschatz eines achtjährigen Kindes, was ihnen auch im Arbeitsleben Nachteile verschafft. Wenn sie schließlich Eltern werden, würden sie in der Kommunikation mit ihren Kindern oft die Sprachen vermischen oder eine falsche Grammatik verwenden, sagt Rausch. Manche würden auch versuchen, mit ihren Kindern nur in der Lautsprache zu sprechen – wissend, dass sie die Antworten der Kinder nicht verstehen können. Damit CODAs von Anfang an optimal zweisprachig aufwachsen können, müsste man daher eine Generation früher ansetzen, sagt Rausch, und den ÖGS-Unterricht für Gehörlose fördern. Dreimal anrufen. In der Kommunikation mit ihren Eltern gab es ausgeklügelte Abmachungen, erinnert sie sich: „Wenn ich unterwegs war, war der Deal: Wenn ich dreimal hintereinander anrufe, ist alles in Ordnung. Wir hatten Lichtglocken. Meine Mutter hat dann abgehoben, ich habe wieder aufgelegt.
CODAs leben in zwei Welten: »Wir sind physisch hörend und kulturell gehörlos.« Für offizielle Termine gibt es Dolmetscher. Im Alltag vermitteln aber oft die Kinder.
Beim dritten Mal hat sie gesagt: ,Ich verstehe dich, du hast dreimal angerufen, es ist alles okay. Wenn’s nicht okay ist, ruf noch einmal an.‘ Da hatten wir unsere Tricks.“Heute gibt es Messaging-Apps und Videotelefonie.
In die Rolle des Vermittlers rutschen CODAs aber auch heute noch. Offiziell bleibt das Übersetzen beim