Lautstark ohne Laute: Gehörlose im Filmporträt
Die Doku »Seeing Voices« folgt dem Alltag von Gehörlosen in Österreich – und räumt dabei mit Klischees auf. Ein einfühlsamer, kluger Film von Dariusz Kowalski.
Eines der größten Versprechen des Kinos ist die Möglichkeit, sich in andere hineinversetzen zu können – nicht nur ideell, sondern sinnlich, mit Haut und Haaren. Das Stilmittel der Subjektive, expressionistische Ton- und Bildgestaltung, Traumsequenzen und Rückblenden: allesamt Einfühlungsportale zu Empfindungswelten außerhalb der eigenen Wahrnehmungsdimension. Doch jede solche Leinwanderfahrung, und sei sie noch so intensiv, bleibt phantasmatisch. Es wäre absurd zu behaupten, nach der Sichtung eines Kriegsfilms wisse man, „wie es damals auf dem Schlachtfeld zugegangen ist“. Und genauso wenig ist das Kino imstande, einem hörenden Menschen die tatsächliche Lebensrealität eines Gehörlosen erfahrbar zu machen.
Aber es kann ihm eine Vorstellung davon vermitteln. Es kann Einblicke gewähren, Verständnis schaffen, mit Klischees aufräumen. Es kann herablassendes Mitleid mit aufrichtiger Empathie ersetzen. Das ist schon enorm viel, und enorm viel wert. Wie sein jüngster Dokumentarfilm belegt, ist sich der in Polen geborene und in Österreich tätige Regisseur Dariusz Kowalski dessen vollauf bewusst.
„Seeing Voices“ist ein kluges, einfühlsames Porträt der österreichischen Gehörlosengemeinschaft – ihrer Sorgen und Probleme, aber auch ihrer Hoffnungen und Freuden. Es folgt dem Alltag seiner sympathischen Protagonisten in ruhigen Tableaus, versetzt den Zuschauer in die teilnehmende Beobachterposition. Kowalski, der ein Jahr lang Gebärdensprache gelernt hat, verknüpft unterschiedliche Geschichten zu einem Sittenbild, das dem Menschlichen und dem Gesellschaftlichen gleiches Gewicht beimisst. Dabei richtet sich der Film gleichermaßen an ein hörendes wie an ein gehörloses Publikum – die Untertitel vermerken auch Geräusche und ihre Lautstärke. Identität. Lautstark geht es hier aber auch ohne Laute zu, und das nicht nur, wenn in Party- und Versammlungsszenen die Notiz „Stimmengewirr“eingeblendet wird. Denn gehörlosen Menschen geht es wie allen anderen darum, gehört zu werden – ohne sich dafür unterordnen zu müssen. Ein Integrationsberater bringt dieses Bestreben an einer Stelle gut auf den Punkt: Man soll sich nicht dafür entschuldigen, dass man die Hörenden nicht gleich versteht, sie sollen sich dafür entschuldigen, dass sie nicht gebärden können. Es geht um Selbstbewusstsein und Identität – eine Identität, die man im Übrigen „nicht wegoperieren“kann, wie es im Zuge einer Anhörung der Politikerin Helene Jarmer, die sich stark für Gleichberechtigung einsetzt, heißt. Hörprothesen wie das Cochlea-Implantat sind kein Heil-, sondern ein Hilfsmittel.
Und auf Hilfe, das leugnet der Film nicht, sind gehörlose Menschen im nie ganz barrierefreien Alltag immer wieder angewiesen – aber statt die Schwierigkeiten zu betonen, konzentriert sich Kowalski auf gelebte Solidaritätskultur und die Leistungen von Förderinstitutionen. Entsprechend oft beobachtet man Menschen bei Berufsorientierungskursen und Rollenspielen, die den Umgang mit (potenziell rücksichtslosen) Arbeitgebern trainieren sollen. Wer jemandem nicht gleich etwas von den Lippen ablesen kann, muss nachfragen – teilweise bis zum Abwinken. Tanzen ohne Musik. Manchmal erinnern die Coaching-Szenarien an Harun Farockis Kontrollgesellschaftsdoku „Leben BRD“. Doch was dort unheimliche Untertöne hat, erscheint hier in einem weit wärmeren Licht. Es wird viel gelacht, und man hat nie das Gefühl, dass die Menschen für den Arbeitsmarkt „zugerichtet“werden. Was sie lernen, sind Notwendigkeiten.
Oder Swingtanz. Denn auch ohne die Musik zu hören, lassen sich die Hüften schwingen. Während der Freizeit bekommt man die Hauptfiguren allerdings nur selten zu sehen – eine der wenigen formalen Entscheidungen, die man „Seeing Voices“vorhalten kann. Das Bild, das er von der Gehörlosengemeinschaft zeichnet, gerät darob ein Stück weit defensiv. Wenn ein gehörloser Jugendlicher beim Fortgehen nach der Getränkeauswahl eine anzügliche Bemerkung über die noch anwesende Kellnerin macht, muss man das keineswegs witzig finden – aber es ist einer der wenigen Momente, der daran erinnert, dass man es mit Menschen zu tun hat, die genauso unkorrekt sein können wie alle anderen auch.
Insofern würde „Seeing Voices“ein schönes Double Feature ergeben mit Myroslav Slaboshpytskyis „The Tribe“(2014), einem mitreißenden Spielfilm über Jugendkriminalität, der in ukrainischer Gebärdensprache gedreht wurde und auf Untertitel verzichtet. Aber auch für sich genommen bietet Kowalskis Doku genug spannendes und berührendes Material und kann jedem ans Herz gelegt werden. Ob man der Gebärdensprache mächtig ist oder nicht – man wird sich darin wiederfinden.