Die Presse am Sonntag

Von Fischen und Drachen

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In dem Roman »Fische und Drachen« der litauische­n Autorin Undin˙e Radzeviˇci¯ut˙e werden Menschen und Kulturen elegant verwirbelt. Giuseppe Castiglion­e ist eine literarisc­he Figur. Schon der Sinologe Tilman Spengler nahm ihn zum Vorbild für seine Hauptfigur im Roman „Der Maler von Peking“. Undine˙ Radzevicˇi­u¯te˙ ist Kunsthisto­rikerin und -kritikerin und kam auf diesem Weg zu dem europäisch­en Maler, der unter drei Kaisern der letzten chinesisch­en Dynastie diente. Für „Fische und Drachen“wurde die Autorin mit dem EU-Literaturp­reis ausgezeich­net. Großartig wird darin China als Gegenentwu­rf zum europäisch­en Prozess der Zivilisati­on präsentier­t. Castiglion­e muss sich anpassen, tief in die chinesisch­e Mentalität eindringen. Die Malerei erweist sich als praktikabl­es Transportm­ittel, das chinesisch­e Denken zu skizzieren.

Das ist jedoch nur die eine Ebene des Romans. In der anderen, die im Hier und Jetzt spielt, wohnen vier Frauen aus drei Generation­en zusammen: Oma Amigorena, ihre Tochter, Mama Nora genannt, und deren Töchter, Miki und Schascha. Die Wohnung liegt in Chinatown. Mama Nora ernährt die Familie mit erotischen Kriminalro­manen. Schascha schreibt auch: die Geschichte von Castiglion­e.

Auf beiden Ebenen prallen Welten aufeinande­r: die östliche des 17. und 18. Jahrhunder­ts – Jesuiten und der patriarcha­lische Kaiserhof – und die heutige, westliche: Keine der vier Frauen hat einen Partner. Sie leben in unfriedlic­her Koexistenz, reden und werken konsequent aneinander vorbei. Ein Roman als Teilchenbe­schleunige­r: Wir beobachten, was passiert, wenn die Teilchen dieses disparaten Kosmos zusammenst­oßen. cle Undin˙e Radzeviˇci¯ut˙e: „Fische und Drachen“, übersetzt von Cornelius Hell, Residenz, 398 Seiten, 24 Euro.

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