Ein Land zwischen Taliban und IS
Zwei islamistische Gruppen, derselbe Machtanspruch. In Afghanistan bekämpfen sich die Taliban und der Islamische Staat (IS). Kabul hat ganze Regionen nicht mehr unter Kontrolle.
Dutzende von Staaten dürfen in diesem Land mitregieren, doch für uns soll kein Platz sein? Das sehen wir nicht ein.“Habibullah Samimi nippt mürrisch an seinem Tee. Hier, im Distrikt Khogyani in der ostafghanischen Provinz Nangarhar, hat Samimi das Sagen: Er ist ein lokaler Taliban-Kommandant, ein Jihad-Veteran, der einst schon gegen die sowjetische Besatzung kämpfte. Samimis Anfeindung gilt der afghanischen Regierung in Kabul, die seiner Meinung nach keinen Frieden mit den Taliban haben will.
Seit Langem schon gilt Khogyani als Schlupfort der islamistischen Taliban-Miliz. Selbst die Menschen aus der Provinzhauptstadt Jalalabad, rund 30 Minuten Autofahrt entfernt, meiden die im Distrikt liegenden Dörfer. Wie in vielen anderen Gegenden Afghanistans auch, die von den Taliban kontrolliert werden, ist in Khogyani die Kabuler Regierung machtlos. Viele der TalibanKämpfer sind eng mit den Dorfstrukturen verbunden und gehören lokalen Stämmen an. Und die Fehden, die seit Jahrzehnten existieren, werden hier zum Teil weitergetragen. Weil Mitglieder von verfeindeten Stämmen die Regierung unterstützen, sind sie Feinde für Taliban wie Samimi.
Doch seit geraumer Zeit kämpfen die Aufständischen an zwei Fronten. Einerseits findet der gewohnte Kampf gegen die afghanische Armee und ihre Verbündeten statt, andererseits hat sich ein Konflikt mit der Zelle des sogenannten Islamischen Staates (IS) entwickelt. Der afghanische IS-Ableger, der Schätzungen zufolge nur aus wenigen Tausend Kämpfern bestehen soll, operiert vor allem in Nangarhar und besteht unter anderem aus ehemaligen Taliban-Kommandanten. Erstmals berichtet wurde über die Zelle im Februar 2015. Seitdem kam es immer wieder zu Kampfhandlungen zwischen dem IS und den Taliban. Erst vor wenigen Wochen wurden bei Gefechten im Norden des Landes Dutzende Kämpfer auf beiden Seiten getötet.
Den Taliban war der IS von Anfang an ein Dorn im Auge, denn beide Gruppierungen haben denselben Machtanspruch. Allerdings kann es laut deren Ideologie nicht zwei Führer zum gleichen Zeitpunkt geben. Sowohl IS-Führer Abu Bakr al-Baghdadi als auch Taliban-Chef Haibatullah Akhundzada (sowie seine Vorgänger Akhtar Mohammad Mansour und Mo- hammad Omar) beanspruchen den Titel „Amir ul-Muminin“(„Führer der Gläubigen“) für sich. Umgang mit Schiiten. Noch vor wenigen Wochen war Samimi mit seinen Kämpfern an der Front gegen den IS. Wie viele andere Taliban-Mitglieder meint Samimi, dass die Ideologie des IS wenig gemein habe mit jener der Taliban. Als Beispiel nennt er den Umgang mit schiitischen Muslimen: Während der IS Schiiten gezielt angreife und ermorde, seien die Taliban für ein solches Vorgehen nicht bekannt. Außerdem, so der Taliban-Kommandant, seien in den Reihen des IS viele Ausländer, während die Taliban im Großen und Ganzen eine lokale, afghanische Bewegung darstellen würden.
„Ich habe unter ihnen mit meinen eigenen Augen Algerier und Philippiner gesehen“, so Samimi. Allerdings lassen sich in den Reihen des IS auch zahlreiche Ex-Taliban finden. Beobachtern zufolge hat die afghanische IS-Zelle, die sich mittlerweile auch in anderen Landesteilen finden lässt, Strategien entwickelt, um lokale TalibanKommandanten erfolgreich anzuwerben. Eine davon ist etwa die gezielte Suche nach unterbezahlten Kommandanten, die sich vernachlässigt fühlen und deshalb ein hohes Potenzial zum Überlaufen besitzen.
Im Großen und Ganzen ist der IS jedoch weiterhin ein überschaubarer Akteur am Hindukusch. Unter den Aufständischen geben die Taliban weiterhin den Ton an. Sie sind dominant und ihr Kampf gegen die Regierung in Kabul stellt weiterhin ein großes Problem dar. Laut Zahlen der US-Regierung befinden sich rund 40 Prozent des Landes entweder unter Taliban-Kontrolle oder haben das Potenzial, in die Hände der Aufständischen zu fallen.
Für den Erfolg der Extremisten gibt es mehrere Gründe. Ein Blick in den Distrikt Khogyani, der regelmäßig von US-Luftangriffen heimgesucht wird: Während viele Medienberichte regelmäßig von getöteten Taliban- oder ISKämpfern handeln, zeichnet sich vor Ort ein anderes Bild ab. In vielen Fällen töten die Luftangriffe auch zahlrei- che Zivilisten. „Oftmals gibt es ein oder zwei tote Taliban-Kämpfer und ein Dutzend tote Zivilisten. Es gibt auch genug Fälle, in denen ausschließlich Zivilisten getötet oder verletzt wurden“, sagt Mohammad Khan, einer der Dorfbewohner. „Diese Angriffe treiben einfache Menschen regelrecht in die Hände der Taliban.“
Ähnliches behauptet auch TalibanKommandant Samimi. „Sobald eine Frau oder ein Kind durch einen solchen Angriff getötet wird, steht der ganze Clan hinter uns und greift zur Waffe“, sagt er, während er auf mehrere anwesende Kämpfer zeigt, die Familienmitglieder durch Luftangriffe verloren haben.
Hierfür machen viele Einwohner von Khogyani – sowohl Zivilisten als auch Taliban-Kämpfer – auch die Regierung von Präsident Ashraf Ghani verantwortlich. „Unser Präsident sieht zu, wie wir ermordet werden. Nach Khogyani kommt niemand von der Regierung. Wir sind hier allesamt verdammt“, sagt Mostafa, der als Hirte sein Brot verdient.
Nach US-Luftangriffen laufen die Menschen scharenweise den Extremisten zu.
Warlords in Regierung. Doch während in Khogyani der Unmut groß ist, meint die Kabuler Regierung, dem Frieden in diesen Tagen etwas nähergekommen zu sein. Vor Kurzem wurde mit Gulbuddin Hekmatyar eine Friedensvereinbarung getroffen. Hekmatyar, ein berüchtigter Warlord, hat sich vor allem während des Kampfes gegen die Sowjetunion sowie in den Jahren des Afghanischen Bürgerkriegs einen Namen gemacht. Wie zahlreiche andere Warlords, die in der afghanischen Regierung sitzen, werden Hekmatyar und seine Partei Hizb-e Islami für zahlreiche Kriegsverbrechen verantwortlich gemacht. Doch als die Nato 2001 in Afghanistan einmarschierte, setzte Hekmatyar – im Gegensatz zu vielen anderen Kriegsfürsten – den Kampf gegen die Truppen wie die Russen fort. Vor wenigen Monaten wurde Hekmatyar allerdings von der Terrorliste Washingtons entfernt. Mittlerweile lebt der Mann, der einst Hunderte von Raketen tagtäglich auf Kabul niederregnen ließ, in einem abgesicherten Anwesen in der Hauptstadt.
Der Kommandant der islamistischen Taliban, Samimi, kommentiert das zynisch. „Dieser Mann wird nun als Friedensengel betrachtet, aber wir sind weiterhin die Bösen? Diese Farce sollte doch selbst für die Menschen im Westen mehr als offensichtlich sein.“