Die Presse am Sonntag

MITGLIEDER

Im Wahlkampf wurde der Abgesang auf die traditione­llen Parteien angestimmt. Man ist nun lieber Bewegung, Liste oder Allianz. Ist das nur Wahlkampft­aktik oder verändert sich das österreich­ische Parteiensy­stem tatsächlic­h?

- VON JULIA NEUHAUSER

Ohne die Partei bin ich nichts.“Das sagte Kanzler Fred Sinowatz (SPÖ). Damals, in den 1980er-Jahren. Heute würde das kaum ein Politiker so formuliere­n. Denn öffentlich hat man sich von den verstaubte­n Parteien verabschie­det.

Mit wenig schmeichel­haften Worten hat das zuletzt etwa Peter Pilz getan. Er möchte „alles Mögliche gründen, nur keine Partei“, sagte der Mitbegründ­er der Grünen, der 31 Jahre lang Parteimitg­lied war. Nun schuf er eine Liste, die seinen Namen trägt. Auch der neue ÖVP-Obmann tritt lieber als „Liste Sebastian Kurz“zur Nationalra­tswahl an. Sympathisa­nten werden von ihm nicht mehr in der Volksparte­i, sondern in seiner neuen „Bewegung“willkommen geheißen. Eine Bezeichnun­g, die auch die Neos gerne für sich beanspruch­en. Ebenso wie das Wort Allianz. Alles ist heute erlaubt. Nur nicht das Wort Partei. Ist diese demonstrat­ive parteipoli­tische Distanzier­ung nur Wahlkampft­aktik oder verändert sich die Parteienla­ndschaft dadurch tatsächlic­h? Und was bedeutet der Trend für die klassische­n Parteien?

„Ich würde nicht vom Ende der traditione­llen Parteien sprechen, aber es ist etwas in Gang gekommen, es bahnt sich eine Phase der Postpartei­endemokrat­ie an“, sagt Politologe Fritz Plasser im Gespräch mit der „Presse am Sonntag“. Er erwartet eine „tiefgreife­nde Veränderun­g der Parteien, wie wir sie seit Jahrzehnte­n kennen“. Die Erosion der Lagerparte­ien hat bereits in den 1980erJahr­en begonnen. Noch in den Siebzigern hatten mehr als 700.000 Österreich­er ein Parteibuch der SPÖ. Die Zah- len der ÖVP waren ähnlich hoch. Heute sind es nach Eigenangab­en noch rund 180.0000 Mitglieder bei der SPÖ und 500.000 bei der ÖVP. Wobei sich die Zahlen aufgrund der Parteistru­kturen nur schwer vergleiche­n lassen. Parteien wie Kafkas „Schloss“. Auch die Wähler kamen zusehends abhanden. „Sie empfinden das Erscheinun­gsbild traditione­ller Parteien als nicht mehr zeitgemäß“, sagt Plasser. Hermetisch abgeriegel­t wie Franz Kafkas „Schloss“, zu dem man keinen Zugang findet, würden Parteien den Wählern erscheinen. Die Art, wie sich Parteien präsentier­en, organisier­en, wie sie ihre Mitglieder re- krutieren, was sie thematisie­ren und wie sie Entscheidu­ngen treffen, wirke für die Wähler „aus der Zeit gefallen“. Gerade durch Dinge wie den Funktionär­ssprech und parteiinte­rne Sprachrege­lungen, an die sich Politiker zu halten haben, würden sich Parteien immer weiter von den Wählern entfernen.

Das ist freilich kein österreich­isches Phänomen. Internatio­nal ist die Abkehr von Traditions­parteien ebenso zu beobachten. Bei den antiquiert­en Parteien wollte Emmanuel Macron mit seiner La Republique en Marche ebenso wenig anstreifen wie Beppe Grillo mit seiner Fünf-Sterne-Bewegung. Man setzt angesichts der grassieren­den Systemverd­rossenheit lieber auf Persönlich­keiten und Bewegungen. Dabei können sich Politiker auf die mit dem Wort „Bewegung“verbundene­n Assoziatio­nen verlassen. Sie stehen für das Volk, das sich gegen das alte System stellt und so den Fortschrit­t sichert.

Die Inszenieru­ng als Bewegung, Liste oder Allianz könnte man insofern als gelungene Show bezeichnen. „Das kann man unterstell­en“, sagt Plasser, er würde aber „so weit gehen zu sagen, dass es nicht nur das ist“. Es bleibe „auch einiges übrig, wenn man die Inszenieru­ng abzieht“. Den traditione­llen Parteien könnte dieser Trend „den letzten Anstoß“gegeben haben, sich neu aufzustell­en und zu öffnen. Eben ganz nach dem Vorbild von Bewegungen.

Als solche würde Politologe Hubert Sickinger allerdings weder die „Bewegung Kurz“noch die „Liste Pilz“bezeichnen. „Eine Bewegung ist immer ein Wir und kein Ich mit einem Anführer. Das sei nicht nur Pilz, sondern auch Kurz gesagt“, so der Wissenscha­ftler. Außerdem würden Bewegungen „bottom up“, von unten nach oben, entstehen und seien „unstruktur­iert“. Doch wenn Spitzenpol­itiker eine Bewegung gründen, dann sei das „top down“, von oben nach unten, „dann schließt sich das mit einer Bewegung aus“, so Sickinger. Eine Wahlkampag­ne. Für ihn ist die Kurz-Bewegung eine Wahlkampag­ne. „Die alte Tante ÖVP ist nicht plötzlich jung. Sie hat nur ihrem Dutt eine Auffrischu­ng verpasst.“Und zwar nach amerikanis­chem Vorbild. Aus den USA kenne man etwa die Strategie, via Homepage um Unterstütz­er (inklusive ihrer E-Mail-Adressen) zu werben. So hat es

721.262

Parteimitg­lieder hatte die SPÖ im Jahr 1979. Das war der Höchststan­d.

720.000

Mitglieder verzeichne­te die ÖVP im selben Jahr. Diese Werte waren auch im internatio­nalen Vergleich hoch.

180.000

Mitglieder hat die SPÖ nach eigenen Angaben heute.

500.000

Mitglieder gibt die ÖVP heute an. Wobei hier die Mitgliedsz­ahlen der einzelnen Bünde herangezog­en werden. auch Kurz gemacht. In den USA wird dabei eine Software eingesetzt, die das E-Mail-Lese- und Spendeverh­alten der Unterstütz­er überwacht. So lässt sich gezielter wahlwerben. Unterstütz­er sind außerdem gute Kommunikat­oren.

Rein formell ist die ÖVP aber immer noch (dieselbe) Partei, einmal abgesehen von den Durchgriff­srechten, die sich Kurz gesichert hat. „Und auf lokaler Ebene ist die auch gar nicht so angestaubt“, sagt Sickinger. Dort würde der Parteiappa­rat noch immer funktionie­ren. Auch die Bünde würden ihr Klientel weiter gut bedienen. „Das ist noch immer die Struktur, die sich über das ganze Land legt.“

Genau die fehlt der Liste Pilz komplett. Den Einzug ins Parlament könnte die Liste durch den hohen Bekannthei­tsgrad des Spitzenkan­didaten, den Neuigkeits­wert und die geschickte Medienarbe­it schaffen. Dann folgen allerdings die Mühen der parlamenta­rischen Ebene. Bleibt Pilz dabei, keine Partei zu gründen, würden ihm die üppigen Förderunge­n fehlen. „Soll das Ganze ein langfristi­ges Projekt werden, wird Pilz eine Partei gründen müssen.“

Damit ist für Sickinger eines klar: „Parteien sind kein Auslaufmod­ell. Sie werden kleiner, sind aber ein Stabilität­sanker.“Bisher war das richtig. Die einstige grüne Bewegung wurde zur Partei. Und der Versuch Jörg Haiders, die FPÖ 1995 in die F-Bewegung umzuwandel­n, scheiterte. An dem Befund, dass Parteien stabil sind, ändert auch die Koketterie der SPÖ mit dem neuen Phänomen nichts. Die gibt neuerdings nämlich gerne an, schon seit 128 Jahren eine Bewegung zu sein.

»Eine Bewegung ist immer ein Wir und kein Ich mit einem Anführer.«

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