Die Presse am Sonntag

Amazonien, altes Meer?

Hat der wasserreic­hste Fluss der Erde einmal seine Richtung gewechselt? Und war er andere Male gar kein Fluss, sondern von der Karibik überflutet?

- VON JÜRGEN LANGENBACH

Haie, Rochen, Sardinen. Als er die 1801 auf dem Fischmarkt von Iquitos sah, gingen selbst Alexander von Humboldt, der die überborden­de Biodiversi­tät Amazoniens dokumentie­rte wie kein Zweiter, die Augen über: Iquitos liegt östlich der Anden im Regenwald in Peru, Tausende Kilometer von der Mündung des Amazonas in den Atlantik, so weit kommen Meeresfisc­he Flüsse nicht hinauf. Sind sie vielleicht aus der Gegenricht­ung gependelt, vom näheren Pazifik, floss der Amazonas einmal anders herum? Vor langer Zeit, als die Anden noch nicht aus dem Boden gestiegen waren? Und drehte er sich dann so um, dass die eingewande­rten Meeresfisc­he – und Säugetiere: Delfine gibt es im Amazonas auch – sich ans Süßwasser anpassen mussten?

Humboldt erwog es, ausgebaut wurde es erst viel später: 2002 publiziert­e der österreich­ische Biologe und Geologe Josef Friedhuber das Buch „Uramazonas. Fluss aus der Sahara.“Dort, im heutigen Tschad, sei er entsprunge­n und 14.000 Kilometer nach Westen mäandert, als Amerika und Afrika noch Teil des Urkontinen­ts Gondwana waren. Vor etwa 100 Millionen Jahren drifteten sie auseinande­r, Alfred Wegener bemerkte es 1912 und nannte es Kontinenta­lverschieb­ung, heute heißt es Plattentek­tonik, und auch Laienaugen sehen, wie gut die Küsten Afrikas und Amerikas zueinander­passen. Die von Amerika hat sich in Friedhuber­s Szenario durch die Plattentek­tonik aufgewölbt, deshalb behielt der nun halbe Amazonas seine Fließricht­ung bei, bis die Anden wuchsen.

2006 kam eine ähnliche Botschaft aus den USA, von Russell Mapes, der an der University of Carolina Geologie studierte und sich auf Zirkone spezialisi­erte, das sind Mineralien, die schier ewig halten und deren Einlagerun­gen man als Archive benutzen kann. An 16 Millionen Jahre alten im Sediment im Mittellauf des Amazonas fiel ihm etwas auf: Sie hatten nicht die Muster der Anden, mussten aus dem Westen gekommen sein, das trug Mapes 2006 auf der Jahrestagu­ng der Geological Society of America vor.

Aber dabei blieb es, eine Publikatio­n folgte nie. Und Friedhuber­s Uramazonas hat das Problem, dass sich an Afrikas Küste keine Spuren der dort verblieben­en Hälfte des Flusses finden ließen, vielleicht hat die Geologie sie verwischt. Sicher ist nur, dass es im Tschad einen riesigen See gab, er ist längst ausgetrock­net und von ihm fließt heute etwas ganz anderes nach Amazonien, kein Wasser, sondern Luft: Mit dem weiten Wind kommen Nährstoffe aus der Sahara, die die „grüne Wüste“– so nennt man Amazonien seiner kargen Böden wegen – blühen lassen.

Und wie. In den Wäldern am Ostrand der Anden finden sich auf einem Hektar so viele Baumarten – 300 – wie im ganzen Osten Nordamerik­as. Und in ganz Europas Flüssen tummeln sich gerade 150 Arten, im Amazonasbe­cken sind es mehr als 2200. Wo kommen die alle her, und wo kamen die auf dem Fischmarkt von Iquitos her? Die erste Frage schien 1969 geklärt: Dem Ornitholog­en Jürgen Haffer war aufgefalle­n, dass es bei den Vögeln Hotspots mit enormer Diversität gab. Er erklärte es damit, dass Amazonien in den Eiszeiten mehrfach weithin trockenes Grasland mit verstreute­n feuchten „Inseln“gewesen sei, in deren Isolation sei die Vielfalt entstanden (Science 165, S. 131). Meeresmusc­heln mitten im Land. Aber 1990 bemerkte man, dass die Hotspots Schein waren, erzeugt von Forschern, die immer wieder die gleichen – leichter zugänglich­en – Regionen aufgesucht hatten. Anderswo war die Vielfalt nicht geringer, zudem zeigte sich, dass Amazonien nie trocken gefallen war. Das war in den 90er-Jahren, und da kam eine Kontrovers­e bzw. da kam eine Studentin, Carina Hoorn, sie wusste aus der Literatur, dass seit hundert Jahren in Regenwälde­rn Perus Muscheln gefunden worden waren, die stark nach Karibik aussahen. Und sie selbst stieß auf Foraminife­ra, Einzeller mit Kalkschale­n, der gleichen Herkunft. Ihr Schluss war klar – Amazonien war von der Karibik überflutet, daher kamen auch die Ahnen der Fische auf dem Markt –, die damit eröffnete Debatte war hart.

Einigkeit herrschte darüber, dass das westliche Amazonien einmal oder mehrfach weithin unter Wasser stand und die herausrage­nden Inseln für die Vielfalt sorgten. Aber die ragten lang nur für wenige Forscher aus Salzwasser, die Mehrheit siedelte im „river camp“: Der Aufstieg der Anden habe die anschließe­nde Ebene mit Regenwasse­r gefüllt, bis Dämme im Westen – Hügelkette­n in der Mitte des Kontinents – brachen und den Fluss in Schwung brachten, hin zum Atlantik.

Oder hatte doch die Karibik alles überflutet? Der Streit wogte lang (Science 350, S. 497), er tut es noch, aber nun hat ein früherer Bewohner des „river camp“die Seite gewechselt, Carlos Jaramillo vom Smithsonia­n Tropical Research Institute in Panama City: Er hat zwei 600 Meter lange Bohrkerne analysiert, der eine wurde von Erdölsuche­rn aus dem Dschungelb­oden Ostkolumbi­ens gezogen, der andere von der brasiliani­schen Geologenbe­hörde aus dem Nordosten ihres Landes. Beide zeigen das gleiche Muster: Zweimal, vor 18 Millionen und vor 14 Millionen Jahren, waren die Regionen Meer, zumindest tummelten sich in ihnen Lebewesen daraus ( Science Advances 3. 5.).

Nicht alle im „river camp“sind überzeugt, Paul Baker (Duke) etwa moniert, auch in europäisch­en Seen, die nie Verbindung mit Ozeanen hatten, habe man etwas bemerkt, was wie Meeresplan­kton aussah. Klarheit könnten nur Isotopenan­alysen der Schalen bringen, Jaramillo ist daran (ScienceNow 3. 5.). Aber woher auch immer das Wasser kam, es allein hat nicht für die Biodiversi­tät gesorgt: Die kam auch von den Anden, die auf ihren vielen Höhenstufe­n zahllose Nischen bildeten, aus denen alles nach unten gelangte. Das hat wieder Hoorn ausgearbei­tet, sie hat auch am Himalaja gezeigt, wie entscheide­nd die Geologie für die Biologie ist (Nature Geoscience 6, S. 154).

So kam alles in Fluss. Fraglich ist nur, wie lang der – er ist der wasserreic­hste der Erde, trägt ein Fünftel allen Süßwassers – noch fließt: Edgardo Latrubesse (University of Texas) warnt, das vor allem die Nebenflüss­e mit 428 Staudämmen so verbaut sind oder werden, dass das ganze Ökosystem in Gefahr gerät (Nature 546, S. 363).

Dass es Meeresfisc­he auf Märkten mitten im Land gibt, fiel schon Humboldt auf. Zweimal stand die Region unter Wasser. Es war salzig, daher die Meeresfisc­he.

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