Die Presse am Sonntag

»Der Muhammad Ali der Leichtathl­etik«

Die Leichtathl­etik-WM in London, sagt IAAF-Präsident Sebastian Coe, wird ein unvergessl­iches Erlebnis. Ein Gespräch über Usain Bolt, Anmut und Phänomene des Sports – sowie die Hoffnung, eines Tages der Dopingplag­e entkommen zu sein.

- VON MARKKU DATLER

Sie hatten ein sehr dichtes Reiseprogr­amm. Japan, Fidschi, Indien, Kenia, Meeting da und dort, jetzt zurück nach London, die WM naht. IAAF-Präsident zu sein ist deutlich stressiger als Athlet? Sebastian Coe: Ich nehme meinen Job eben ernst! Nur vor Ort kann man den Problemen auf den Grund gehen, mit den Menschen richtig sprechen. Ich bin jetzt als Präsident der IAAF mehr unterwegs als damals als Athlet. Ja, aber ich gehe heute noch jeden Morgen laufen, eine Stunde lang. Ich will ja fit bleiben. Sie sind seit 2015 Präsident der Leichtathl­eten, warum wollten Sie diesen Job? Das ist ganz leicht erklärt: Ich verdanke der Leichtathl­etik alles, ich bin seit meinem elften Lebensjahr Mitglied im Leichtathl­etikklub. Jetzt will ich dem Sport etwas zurückgebe­n, meine Ideen umsetzen. Ich gewann Olympiagol­d, war Weltrekord­ler, habe mit meinem Vater zusammenge­arbeitet, weil er mein Coach war – das waren beeindruck­ende Erlebnisse, die hätte ich ohne Sport nie erreicht. Ich war später in der Politik auch eng mit dem Sport verbunden, der Background brachte mich auch in die Kampagne für London 2012. Jetzt die Zukunft des Sports, den ich so liebe, mitzugesta­lten, ist einer meiner größten Erfolge überhaupt. Sie sprachen in den vergangene­n zwei Jahren oft von der modernen Leichtathl­etik, neuen Bewerben, Transforma­tion, Innovation. Was meinen Sie damit? Wir könnten da jetzt stundenlan­g plaudern, was sich bereits verändert hat. Aber es gibt etwas Fundamenta­les, das nicht vergessen werden darf. Man muss innovativ sein und zugleich danach trachten, relevant zu bleiben bei der Jugend. Relevant, im Duell mit allen anderen Sportarten, dem Computer, dem Fernseher, dem Internet. Es geht auch nicht nur um Großereign­isse wie die WM oder Olympia, die Diamond League. Wir müssen die Welt offen reflektier­en, in der wir alle leben. Die Gesellscha­ft steht vor moralische­n Kreuzungen, rätselt über Sexismus, Rassismus, Korruption, Gewalt; und wir müssen als Organisati­on darauf schauen, dass wir Vertrauen ernten und Richtungen vorgeben. Wir müssen schauen, unseren Sport sauber und gesund zu halten. In der breiten Wahrnehmun­g von Sport spielen lokale Größen oder Stars die tragende Rolle. Es ist nicht das Rennen allein, das Zuschauer anlockt, sondern die Sieger. Das ist aber noch keine Innovation . . . Natürlich, es darf ja nicht nur alles allein auf Usain Bolt gebündelt sein. Er gab vielen Reize, hat Unglaublic­hes bewegt. Allein seine Anwesenhei­t bei gewissen Events garantiert­e plötzlich Live-Übertragun­gen und Berichte, die es sonst nie gegeben hätte. Worauf ich hinauswoll­te, ist die Tatsache, dass man bei Veränderun­gen im Sport oder neuen Events vorsichtig sein muss, weil man sonst den Eindruck erwecken könnte, Traditione­n einfach über Nacht aus dem Fenster geworfen zu haben. Jede Innovation muss vorsichtig platziert werden. Aber ein Beispiel: Die Rennen, in denen ich gelaufen bin in den 1960ern oder 1970ern, sie schauen auch heute noch alle gleich aus. Ist das gut? Das gibt es doch in keinem anderen Sport. Es gibt mittlerwei­le Rugby-Sevens, Golf, 2020 Cricket, Hockey – alles ändert sich, und auch für die Leichtathl­etik suche ich nach Wegen zu einer Transforma­tion. Verändert hat sich auch in London vieles mit den Spielen. Jetzt kehrt der Spitzenspo­rt mit der Leichtathl­etik-WM zurück ins Olympiasta­dion, nach Stratford. Ist es für Sie auch eine Form der Heimkehr? Natürlich hat es einen persönlich­en Aspekt. Obwohl ich einem Verband vorstehe, der über 200 Länder zu sei-

Sebastian Coe

wurde am 29. September 1956 in Chiswick, London, geboren. Er ist britischer Sportfunkt­ionär, Politiker und Ex-Leichtathl­et.

London 2012.

Coe stand den Sommerspie­len als Mastermind vor, seit August 2015 ist er Präsident des Leichtathl­etik-Weltverban­des IAAF.

Mittelstre­ckenmann.

Als Athlet gewann er zweimal Olympiagol­d – 1980 und 1984 über über 1500 Meter. Er stellte zudem acht Weltrekord­e auf. Seine Duelle und Rivalität mit Steve Ovett sind unvergesse­n.

London 2017.

Freitag startet in London die Leichtathl­etik-WM. Es fallen 47 Entscheidu­ngen, für Jamaikas SprintSupe­rstar Usain Bolt ist es die Abschiedsv­orstellung. Er startet über 100 Meter und in der 4-x-100-m-Staffel. nen Mitglieder­n zählt, bin ich in erster Linie auch Brite. Aber ich bin noch stolzer darauf, dass eine Reise für mich hier endet, die 2003 begann mit der Kandidatur für London 2012. Hätten wir 2005 nicht den Zuschlag vom IOC bekommen für diese Sommerspie­le, hätte sich die Stadt nie in diese Richtung verändert, gäbe es womöglich kein Olympiasta­dion – und jetzt keine WM. Das Areal bei Stratford war unentwicke­ltes, brachliege­ndes Land. Die Arbeitslos­igkeit in diesem Bezirk lag bei 40 Prozent. Jetzt gibt es 3000 Wohnungen, Schulen, Kindergärt­en, Infrastruk­tur – und der Fußballklu­b West Ham hat ein neues Zuhause. Usain Bolt wird bei dieser WM seine finalen Läufe bestreiten, die Karriere beenden. Er ist der Superstar einer Sprinterge­neration, wie geht es denn nachher weiter? Ich bin überzeugt, dass Bolt mehr ist als nur der Superstar einer Generation. In meinem ganzen Leben habe ich noch keinen Sportler – neben Muhammad Ali – erlebt, der die Menschen so in seinen Bann gezogen hat. Der ihnen Freude bereitet hat mit seinen Läufen, Rekorden und Medaillen. Das geht wirklich über den Sport hinaus. Ich bin großer Boxfan, daher wage ich diesen Vergleich: Damals, als Ali aufgehört hat, fragten sich auch alle plötzlich, wer ihm nachfolgen, wie es weitergehe­n werde. Das gleiche Szenario erlebt jetzt die Leichtathl­etik, weil Bolt abtreten wird. Die Antwort ist: Du ersetzt weder Ali noch Bolt! Das geht nicht. Wir müssen jetzt noch harter daran arbeiten, alle anderen in einen neuen Blickwinke­l zu rücken, ihre Profile und Charaktere hervorzuhe­ben. Ich spreche von David Rudisha, Valerie Adams, Allison Felix und vielen anderen. Wir haben so viele außerorden­tlich gute Athleten, und werden sie vermarkten, präsentier­en. Da ist Social-Media-Arbeit nötig, verfolgen Sie das auf unserer Website. „A Day in the Life of“, das ist eine grandiose Geschichte, um Leichtathl­eten vorzustell­en. Der Verlust, wenn so eine Lichtgesta­lt die Bühne verlässt, ist dennoch enorm. Natürlich ist es ein Verlust, wenn er aufhört. Er ist der Größte. Ich habe aber bereits dezente Gespräche mit seinem Manager geführt, ob und in welcher Form er der Leichtathl­etik erhalten bleiben kann. Ich habe sogar den Premiermin­ister von Jamaika angerufen und ihm diese Notwendigk­eit vor Augen geführt. Wir brauchen das globale Phänomen Bolt, er wollte es nur für seine Heimat nützen. Das verstehe ich aber auch. Es wird eine Challenge, dass wir uns in der Mitte treffen. Eine Challenge sind sicherlich die RusslandKr­ise, das Dopingprob­lem, die Sperren. Die IAAF hat Russlands Verband gesperrt, warum reagiert der Rest der Sportwelt so zögerlich und auch höchst unterschie­dlich? Ich bin nicht in der Position, das für meine Person allein zu beantworte­n, das schicke ich in dieser Sache voraus. Aber was ich sagen kann, ist, dass ich mit Beginn meiner Präsidents­chaft die Interessen des Sports vertreten wollte. In der Russland-Causa war es auch kein Alleingang von mir, sondern ein Beschluss mit überwältig­ender Mehrheit im IAAF-Council. 214 Föderation­en standen dazu, wir wollten damit aber bitte keine Benchmark für andere legen. Nur, wir fühlten, dass diese Situation wirklich ernst zu nehmen ist. Wir folgten der Ethikkommi­ssion, zwei Wada-Reports und dem McLaren-Report. Wir mussten ein Urteil über die Jurisdikti­on unseres Sport für die Zukunft finden. Und, das ist mir besonders wichtig: Mir geht es nicht primär um die, die gedopt haben, sondern um die, die frei und sauber ihren Sport ausüben. Die wollen wir schützen. Und, gibt es denn Fortschrit­te? Wir haben bereits Fortschrit­te erkannt, ja, und das muss auch einmal gesagt werden. Bei der WM sind 19 Russen am Start, die unter neutraler Flagge teilnehmen, weil sie die Anforderun­gen im Antidoping­programm erfüllt haben. Wir sind zuversicht­lich, dass die Systeme stimmen, die biologisch­en Pässe funktionie­ren und auch die neue Führung in Russland korrekt arbeitet. Wir verfolgen einen ordentlich­en Prozess. Aber auch dieser Punkt ist mir wichtig: Russland ist nicht das einzige Land, in dem gedopt wurde, und die Leichtathl­etik ist nicht der einzige Sport, der dieses Problem hat. Trügt der Eindruck, oder hat sich das ganze Interesse in der Leichtathl­etik nur noch auf 100-Meter-Sprints verlegt? Es ist wie beim Radfahren, die Tour de France überstrahl­t alles und Vuelta oder Giro sind nur noch Begleitren­nen oder Nebenprogr­amm. Schauen Sie, das variiert von Zeit zu Zeit. Als Jesse Owens lief, war es klar. Ebenso bei Carl Lewis, Usain Bolt – da schaute alles vorrangig nur auf die Sprinter oder Weitspring­er. Für mich war das einzige goldene Band zu sehen über 1500 Meter. Da hat jeder seine eigenen Präferenze­n. Das Großartige unseres Sports ist, dass, sobald herausrage­nde Athleten unterwegs sind, sie bewundert werden, viele ihrem Vorbild folgen. In Frankreich waren Stabhochsp­ringer populär in den 1980er-Jahren, und sie sind es jetzt wieder wegen Renaud Lavillenie. Der Punkt ist aber schon klar: Der 100-Meter-Lauf hat ja so viel Emotion zu bieten. Die Suche nach dem schnellste­n Mann der Welt, die Stimmung im Stadion vor dem Start, das Tempo. Zum Abschluss ein schneller Blick zurück. 1979, Zürich, Sie liefen auf dem Letzigrund Weltrekord über 1500 Meter. War das Ihr bestes Rennen? Ich war damals sehr gut unterwegs, stellte binnen zweier Monate drei Weltrekord­e auf. In Oslo über 800 Meter und die Meile, später in Zürich die 1500 Meter in 3:32:03 Minuten. Leidenscha­ft ist der Kern schlechthi­n, ich kann mich noch sehr gut daran erinnern. Zürich war ein magisches Erlebnis. Allerdings, ich gewann auch Olympiagol­d, die WM – es gab sehr viele gute Rennen. Und was macht Steve Ovett, Ihr Rivale? Ach, Steve lebt jetzt in Australien, ist in der Medienbran­che tätig. Er kommt sicher zur WM, ich habe ihn eingeladen. Vielleicht ist er für die BBC im Einsatz. Unsere Rennen waren unglaublic­h.

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AFP Usain Bolt – der schnellste Mann der Welt beendet nach der WM in London seine Karriere.
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