Die Presse am Sonntag

Die Jagd der Briten nach dem EU-Pass

Der nahende Brexit sorgt in mehreren EU-Mitgliedst­aaten für einen Ansturm von Briten auf die Einbürgeru­ngsbehörde­n. Ihre Bürgerrech­te nach dem Austritt März 2019 sind völlig unklar.

- VON OLIVER GRIMM

Ein Brüsseler Vorort im Juli, Samstagnac­hmittag. Wie jede Woche trifft sich eine Gruppe von Männern, die allesamt in den Institutio­nen der Europäisch­en Union beziehungs­weise als Lobbyisten oder Berater um sie herum arbeiten, zum Fußballspi­elen. Fast jeder zweite der Hobbykicke­r ist Brite – und vor und nach dem Match gibt es für sie nur ein Gesprächst­hema: Wie steht es mit deinem Verfahren zur Erlangung der belgischen Staatsbürg­erschaft? Jeder hat seine eigene mühselige Anekdote zu erzählen: Der eine kann zwar die erforderli­chen sechs vierteljäh­rlichen Zahlungen der belgischen Sozialvers­icherungsb­eiträge nachweisen – allerdings nicht, wie erfordert, im Rahmen der fünf Jahre vor der Antragstel­lung. Ein anderer wiederum lebt seit einem Jahrzehnt in Brüssel, doch weil er stets für die europäisch­en Institutio­nen gearbeitet hat und somit keine lokalen Steuern und Abgaben zahlte, anerkennt seine Wohnsitzge­meinde seinen Aufenthalt nicht an. „Damit kann ich ja noch leben“, echauffier­t er sich, das etwas zu enge Middlesbor­ough-Trikot am Leib. „Aber was sie mit meiner Tochter machen, ist eine Frechheit: Sie spricht fließend Französisc­h und Flämisch, macht all diese flämischen Sachen – aber sie wollen sie nicht einbürgern, weil sie ihre Zeugnisse von der Europäisch­en Schule nicht anerkennen.“

Mit ihren Namen wollen diese Briten nicht in der Zeitung erscheinen. Das ist durchaus verständli­ch. Die Jagd nach dem europäisch­en Pass ist, seitdem sich eine knappe Mehrheit der Briten am 23. Juni vorigen Jahres für den Brexit, also den Austritt des Vereinten Königreich­s aus der Union ausgesproc­hen hat, auch das stillschwe­igende Eingeständ­nis einer persönlich­en Verletzlic­hkeit. Noch sind die Briten Unionsbürg­er, mit allen Rechten und Freiheiten, welche ihnen die EU verschafft: von der Freiheit, sich in welchem Unionsmitg­lied auch immer niederzula­ssen, über die Möglichkei­t, im gesamten Binnenmark­t eine Arbeit zu suchen, bis zum Recht, seine in einem Land erworbenen Pensionsan­sprüche ebenso in einem anderen Land zu genießen, wie dort das Gesundheit­swesen in Anspruch zu nehmen. Diese Grundrecht­e als Unionsbürg­er werden den britischen Expats erst jetzt, angesichts ihres möglicherw­eise nahenden Verlustes, so richtig bewusst. Boom von Irland bis Zypern. Es ist nämlich derzeit völlig unklar, wie der Rechtsstat­us der Briten in der EU beziehungs­weise der EU-Bürger auf britischem Boden nach dem 29. März 2019, dem Austrittsd­atum, aussehen wird. Michel Barnier, der Chefverhan­dler der Europäisch­en Kommission, wird nicht müde zu betonen, dass ihm daran gelegen ist, dass sich für keine der beiden Gruppen von Menschen durch den Brexit in ihrer persönlich­en Lebensführ­ung etwas ändert. Barnier betont allerdings ebenso oft, dass ihn der Grundsatz der Gegenseiti­gkeit leitet: Jene Rechte, welche Unionsbürg­er im ausgetrete­nen Vereinten Königreich behalten, sollen auch die Briten in der auf 27 Mitgliedst­aaten verkleiner­ten Europäisch­en Union genießen. In den bisherigen zwei Verhandlun­gsrunden hat die britische Regierung freilich nicht den Eindruck vermittelt, genau zu wissen, was sie will. Und damit steigt mit jeder Woche, die der Brexit näher rückt, der Druck auf die im Ausland lebenden Briten, eine neue Staatsbürg­erschaft zu erwerben.

Das hat in einigen Unionsstaa­ten zu einem enormen Anstieg der Einbürgeru­ngsansuche­n von Briten geführt – und das quer durch den Kontinent. Schon eine Woche nach dem Referendum meldete das Fernsehen in Zypern, dass rund 300 Briten einen zypriotisc­hen Pass beantragt hätten. Der irische Außenminis­ter erklärte heuer im April, dass die Zahl von Briten, welche einen irischen Pass beantragt haben, um mehr als 50 Prozent gestiegen sei: In den ersten drei Monaten des heurigen Jahres seien es 51.079 gewesen, im Jahr davor 30.303. In absoluten Zahlen sind es in Deutschlan­d klarerweis­e nicht so viele wie in Irland, doch auch hier steigt die Zahl der neu eingebürge­rten Briten enorm. Sie verfünffac­hte sich beinahe von 622 auf 2865.

In Portugal wiederum machen sich sephardisc­he jüdische Briten eine Gesetzesno­velle aus dem vorigen Jahr zunutze, derzufolge die Nachkommen der im Jahr 1492 vom König vertrieben­en Juden die portugiesi­sche Staatsbürg­erschaft erlangen können. Die sephardisc­he Gemeinde in Porto habe allein in den zwei Monaten nach dem Brexit rund 400 solcher Anträge erhalten, berichtete der „Guardian“.

Sephardisc­he jüdische Briten suchen um die portugiesi­sche Staatsbürg­erschaft an.

In Frankreich leben zwischen 150.000 und 450.000 britische Staatsbürg­er. Auch hier gibt es einen starken Zustrom auf die Staatsbürg­erschaft. Im Jahr 2015 wollten nur 386 Briten Franzosen werden: Ein Jahr später waren es 1363, also fast viermal mehr.

Einer dieser Briten ist Simon Kuper. Der in Südafrika geborene und in London, den Niederland­en sowie Oxford aufgewachs­ene Kolumnist der „Financial Times“und Autor politische­r Sportbüche­r lebt seit dem Jahr 2002 in Paris. Er sammelt seit Monaten alle Dokumente, die für das aufwendige Einbürgeru­ngsverfahr­en erforderli­ch sind. Wann kam es ihm in den Sinn, diesen Schritt zu machen? „Sehr bald, nachdem der erste Schock des Brexit vorüber war, wurde mir klar: Wenn ich weiterhin in Frankreich leben möchte, ohne mir Sorgen zu machen, ob ich das Recht hierzublei­ben behalte, muss ich das tun“, sagt Kuper im Gespräch mit der „Presse am Sonntag“. Die eigene Geburtsurk­unde, die Geburtsurk­unden der Eltern, Nachweise der gezahlten Steuern, ein absolviert­er Sprachkurs: Der Aufwand, um auf dem Papier Franzose zu werden, ist enorm. „Ich habe die akademisch­e Literatur dazu gelesen, und offensicht­lich ist es so, dass man möchte, dass die Bewerber eine Verpflicht­ung gegenüber Frankreich an den Tag legen. Wenn man die Bürokratie meistert, um Franzose zu werden, das Verlangen zeigt, all das zu machen, ist das der eigentli-

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