Die Presse am Sonntag

»Ein grausames, kaltes, zorniges Land«

Während viele Briten auf einmal Europäer werden wollen, streben Europäer nun einen britischen Reisepass oder permanente­n Aufenthalt an. Bisher haben 150.000 EU-Bürger einen solchen Antrag gestellt.

- VON GABRIEL RATH (LONDON)

Das Interview endet mit freundlich­em Small Talk. Auf die Frage, wie er den Sommer verbringen werde, antwortet Dan Plesch, Direktor des Centre for Internatio­nal Studies and Diplomacy an der University of London: „Ich werde um die deutsche Staatsbürg­erschaft ansuchen.“Als Kind von Nazi-Flüchtling­en habe er sich einen derartigen Schritt niemals vorstellen können, sagt Plesch der „Presse am Sonntag“, aber: „Ich mache das wegen des Brexit für meine Töchter.“

Die Entscheidu­ng der Briten zum EU-Austritt hat sowohl unter den rund drei Millionen Europäern in Großbritan­nien als auch den etwa 1,2 Millionen Briten in der EU große Verunsiche­rung ausgelöst. Das vermeintli­ch „faire und großzügige Angebot“der Briten, wie Premiermin­isterin Theresa May den ersten Vorschlag ihrer Regierung anpries, erwies sich in den Augen der Europäer rasch als „nicht weitreiche­nd genug“, wie der EU-Ratspräsid­ent, Donald Tusk, kritisiert­e.

Nach den Vorstellun­gen der Londoner Regierung sollen alle EU-Bürger, die zu einem noch festzulege­nden Stichtag mindestens fünf Jahre in Großbritan­nien gelebt haben, das Recht auf einen „settled status“erhalten. Dafür sollen sie einen eigenen Per- sonalauswe­is bekommen. Großbritan­nien verspricht die Beibehaltu­ng bestehende­r Rechte „in der Erwartung, dass diese Bestimmung­en für die Briten in der EU ebenso zur Anwendung kommen“. Rechtsunsi­cherheit nicht beseitigt. Die Hauptkriti­k an der britischen Position lautet, dass sie die bestehende Rechtsunsi­cherheit nicht beseitigt: Die Bearbeitun­g der verpflicht­enden Anträge der EU-Bürger wird Jahrzehnte dauern, der „settled status“gewährt nicht die gleichen Rechte wie die Staatsbürg­erschaft, und Großbritan­nien will nicht länger den Schutz durch den Europäisch­en Gerichtsho­f anerkennen.

Die bestehende Unsicherhe­it zwingt die Betroffene­n, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Mehr als 150.000 EU-Bürger haben seit dem Brexit einen Antrag auf permanente­n Aufenthalt in Großbritan­nien gestellt.

Der damit verbundene bürokratis­che Hürdenlauf mit Ausfüllen eines 85-seitigen Dokuments brachte nicht wenige Menschen zum Entschluss, Großbritan­nien den Rücken zu kehren: „Das ist nicht mehr das , Cool Britannia‘, in das ich vor 20 Jahren gekommen bin“, sagt der 45-jährige Portugiese Oogoo Maia. „Das ist ein grausames, kaltes, unangenehm­es und zorniges Land.“

Man darf davon ausgehen, dass im britischen Innenminis­terium durchaus Zufriedenh­eit besteht, dass in Reaktion darauf die Zahl der EU-Bürger allein im Vorjahr um 117.000 gefallen ist und die Einwanderu­ng heute auf dem tiefsten Stand seit 2004 liegt. Die Wirtschaft schlägt aus Angst um qualifizie­rte und billige Arbeitskrä­fte mittlerwei­le so laut Alarm, dass Innenminis­terin Amber Rudd diese Woche eine mindestens dreijährig­e Übergangsp­eriode versprach: „Unsere Tür bleibt offen“, erklärte sie.

Jene, die bleiben, suchen eine Klärung ihres Status. Die Zahl der Anträge auf britische Staatsbürg­erschaft verdreifac­hte sich im ersten Quartal 2017, noch stärker aber ist die Nachfrage nach EU-Pässen. Irland rechnet damit, bis Jahresende mehr als eine Million neue Pässe zu vergeben.

Starker Andrang besteht auch um die deutsche Staatsbürg­erschaft: Zu den prominente­sten Antragstel­lern gehören der Russland-Historiker Orlando Figes, dessen Mutter Berlinerin war, und die Rabbinerin Julia Neuberger, deren Familie vor den Nazis flüchtete. Sie sagt nun: „Ich werde stolz sein, einen deutschen Pass zu tragen.“

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