»Ein grausames, kaltes, zorniges Land«
Während viele Briten auf einmal Europäer werden wollen, streben Europäer nun einen britischen Reisepass oder permanenten Aufenthalt an. Bisher haben 150.000 EU-Bürger einen solchen Antrag gestellt.
Das Interview endet mit freundlichem Small Talk. Auf die Frage, wie er den Sommer verbringen werde, antwortet Dan Plesch, Direktor des Centre for International Studies and Diplomacy an der University of London: „Ich werde um die deutsche Staatsbürgerschaft ansuchen.“Als Kind von Nazi-Flüchtlingen habe er sich einen derartigen Schritt niemals vorstellen können, sagt Plesch der „Presse am Sonntag“, aber: „Ich mache das wegen des Brexit für meine Töchter.“
Die Entscheidung der Briten zum EU-Austritt hat sowohl unter den rund drei Millionen Europäern in Großbritannien als auch den etwa 1,2 Millionen Briten in der EU große Verunsicherung ausgelöst. Das vermeintlich „faire und großzügige Angebot“der Briten, wie Premierministerin Theresa May den ersten Vorschlag ihrer Regierung anpries, erwies sich in den Augen der Europäer rasch als „nicht weitreichend genug“, wie der EU-Ratspräsident, Donald Tusk, kritisierte.
Nach den Vorstellungen der Londoner Regierung sollen alle EU-Bürger, die zu einem noch festzulegenden Stichtag mindestens fünf Jahre in Großbritannien gelebt haben, das Recht auf einen „settled status“erhalten. Dafür sollen sie einen eigenen Per- sonalausweis bekommen. Großbritannien verspricht die Beibehaltung bestehender Rechte „in der Erwartung, dass diese Bestimmungen für die Briten in der EU ebenso zur Anwendung kommen“. Rechtsunsicherheit nicht beseitigt. Die Hauptkritik an der britischen Position lautet, dass sie die bestehende Rechtsunsicherheit nicht beseitigt: Die Bearbeitung der verpflichtenden Anträge der EU-Bürger wird Jahrzehnte dauern, der „settled status“gewährt nicht die gleichen Rechte wie die Staatsbürgerschaft, und Großbritannien will nicht länger den Schutz durch den Europäischen Gerichtshof anerkennen.
Die bestehende Unsicherheit zwingt die Betroffenen, ihr Schicksal selbst in die Hand zu nehmen. Mehr als 150.000 EU-Bürger haben seit dem Brexit einen Antrag auf permanenten Aufenthalt in Großbritannien gestellt.
Der damit verbundene bürokratische Hürdenlauf mit Ausfüllen eines 85-seitigen Dokuments brachte nicht wenige Menschen zum Entschluss, Großbritannien den Rücken zu kehren: „Das ist nicht mehr das , Cool Britannia‘, in das ich vor 20 Jahren gekommen bin“, sagt der 45-jährige Portugiese Oogoo Maia. „Das ist ein grausames, kaltes, unangenehmes und zorniges Land.“
Man darf davon ausgehen, dass im britischen Innenministerium durchaus Zufriedenheit besteht, dass in Reaktion darauf die Zahl der EU-Bürger allein im Vorjahr um 117.000 gefallen ist und die Einwanderung heute auf dem tiefsten Stand seit 2004 liegt. Die Wirtschaft schlägt aus Angst um qualifizierte und billige Arbeitskräfte mittlerweile so laut Alarm, dass Innenministerin Amber Rudd diese Woche eine mindestens dreijährige Übergangsperiode versprach: „Unsere Tür bleibt offen“, erklärte sie.
Jene, die bleiben, suchen eine Klärung ihres Status. Die Zahl der Anträge auf britische Staatsbürgerschaft verdreifachte sich im ersten Quartal 2017, noch stärker aber ist die Nachfrage nach EU-Pässen. Irland rechnet damit, bis Jahresende mehr als eine Million neue Pässe zu vergeben.
Starker Andrang besteht auch um die deutsche Staatsbürgerschaft: Zu den prominentesten Antragstellern gehören der Russland-Historiker Orlando Figes, dessen Mutter Berlinerin war, und die Rabbinerin Julia Neuberger, deren Familie vor den Nazis flüchtete. Sie sagt nun: „Ich werde stolz sein, einen deutschen Pass zu tragen.“