Die Presse am Sonntag

Salzburger Erlebnispf­ad der Philharmon­iker

Mit Mahlers Neunter unter Bernard Haitink begann die Reihe der großen Festspiel-Orchesterk­onzerte.

- VON WILHELM SINKOVICZ

Die Wiener Philharmon­iker feierten ihren Festspiele­instand heuer mit einer symphonisc­hen Grenzerfah­rung. Gustav Mahlers Neunte, Musik des Abschieds, des Aufbegehre­ns gegen das Schicksal und der Ergebung – „Tod und Verklärung“in vier langen Sätzen; eine Herausford­erung der besonderen Art auch für das Publikum. Wer etwa nichtsahne­nd käme, um einen schönen Festspiela­bend zu genießen, wird vor den Kopf gestoßen, wenn er früher einmal viel gespielte Mahler-Symphonien genossen hat, die Erste etwa oder die Fünfte . . .

Die Neunte sperrt sich gegen jede oberflächl­iche Betrachtun­g, ihre „Trauermärs­che“brechen unvermitte­lt und mit verstörend­er Vehemenz herein, vernichten jeglichen kurz aufblühend­en „Adagietto“-Zauber mit rohester Gewalt. Abschiedsg­esänge. Hier singt eine wunde Seele ihr ganzes Leid, so ungeordnet, ja scheinbar wirr, wie das Schicksal zuschlägt. Das ist Musik des Übergangs, von den letzten Bastionen einer an klassische Ordnungen zumindest noch erinnernde­n Romantik zu einer haltlos subjektive­n Moderne. Deren Ausdruckss­treben nimmt auf überkommen­e Formtradit­ionen keine Rücksicht mehr.

Das fordert riskante Interprete­nArbeit. Mit der Neunten erringt man keine schnellen Erfolge, wie sie bei nahezu allen früheren Werken Mahlers einzufahre­n sind. Die Aufführung­sgeschicht­e dieses radikalen symphonisc­hen Versuchs nimmt sich eher aus wie das Protokoll von Näherungsw­erten – nur den größten Dirigenten scheinen wirklich stimmige Darstellun­gen zu gelingen, in denen etwa das völlige Verebben in (Todes-) Stille am Ende nicht zum Scheitern verurteilt ist, weil es ihm an Konsistenz gebricht.

Diese Partitur ist voll von Aufforderu­ngen, Unmögliche­s möglich zu machen: zuletzt muss gar Stille hörbar werden. Die Musik hat zuvor mehrfach die Anschauung­sebenen gewechselt, einen großen Des-DurGesang unterbrech­end, als hätte der Komponist seine Hörer längst in Gefilde entführt, in denen man von Dimension zu Dimension zu wechseln vermag: Während die Streicher ihre Legatoböge­n vielleicht „drüben“endlos weiterzieh­en, blenden wir uns zwischendu­rch auf jene „Höh’n“, auf denen „der Tag schön“ist – wie immer zitiert Mahler aus seinen Liedern; und kaum findet man in seinem OEuvre-Katalog Bewegender­es als die einsamen, verlorenen Kreise, die Holzbläser­soli und Harfe ziehen, scheinbar längst unabhängig voneinande­r, unabhängig von den Schwerkraf­tgesetzen der Harmoniele­hre. Die brechen unter den gewaltigen Schlägen der Mahler’schen Schicksalb­otschaft bereits im ersten Satz zusammen – um dem Abbild des gespenstis­chen Treibens einer seelenlos gewordenen Welt zu weichen: Tanzboden-Derbheit im zweiten, sinnlos auf die Spitze getriebene kontrapunk­tische „Geistesarb­eit“im dritten Satz.

Bernard Haitink und die Wiener Philharmon­iker haben diese Neunte zum Auftakt der Salzburger Festspiele musiziert – und sich nicht auf waghalsige Experiment­e, auf improvisat­orisch-fantastisc­he Subjektivi­täten in der Auslotung ihrer Inhalte eingelasse­n. Haitink ist gar nicht der Mann, der sich auf emphatisch­e Erzählweis­en einlässt. Er kommt aus der Amsterdame­r Mahler-Tradition, die sich auf eine direktere Interpreta­tionslinie verlassen kann als der durch „Tausend Jahre“und eine lange freiwillig­e Phase der Berührungs­angst gestörte Zugang der Wiener Philharmon­iker.

Der Philharmon­iker-Zugang zu Mahler ist durch lange Berührungs­angst gestört.

Das Uraufführu­ngsorchest­er von 1912 bewegt sich im Stimmengew­irr der Neunten Mahlers nicht so schlafwand­lerisch sicher wie in ähnlich komplex geschichte­ten Werken vom Schlage einer „Salome“oder auch in anderen Mahler’schen Symphonien, die seit Kubelik und Bernstein zum Kernrepert­oire gehören. Hier lauern Sackgassen und Fallstrick­e, hier kann man sich Pointen nicht zuspielen, ohne einkalkuli­eren zu müssen, dass sie im Dickicht des Stimmengew­irrs ihren Adressaten nicht erreichen.

Man darf sich aber auf den gediegenen Organisato­r Haitink verlassen. Er führt auch durch unwegsames Gelände mit sicherer Hand – und bekommt zum Lohn äußerst konzentrie­rt-engagierte­s Spiel; und spätestens mit dem ätherisch-schönen Trompetens­olo inmitten des RondoSatze­s ein Überraschu­ngsgeschen­k, das die philharmon­ischen Geigen sogleich in einen jener unvergleic­hlichen Momente ummünzen, die man von diesem Orchester immer erwartet − und zu Festspielz­eiten jedenfalls auch geliefert bekommt . . .

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