Die Presse am Sonntag

Die Zillertale­r Protestant­en: Glaube

Im Jahr 1837 fand die letzte religiös motivierte Vertreibun­g in Österreich statt. Protestant­en aus dem Tiroler Zillertal wurden gezwungen, ihre Heimat zu verlassen. Zwei Autorinnen dokumentie­ren ihren Weg – und wandern ihn nach.

- VON GÜNTHER HALLER

Landrichte­r Simon Porta aus Zell am Ziller war ein ordentlich­er und gewissenha­fter Beamter, aber das, was er im Spätsommer 1837 zu administri­eren hatte, bedrückte ihn. Er konnte seine Emotionen kaum zurückhalt­en: „Der Auszug der aus 400 Köpfen bestehende­n Inclinante­n ging ganz geräuschlo­s und mit der innigsten Theilnahme der zurückblei­benden Bevölkerun­g vor sich. Es war ein herzergrei­fender Anblick, dieser Auszug – Leute zu Fuss, zu Wagen und am Karren vorgespann­t und nachschieb­end. Auf den Wägen sassen und lagen alte Männer, Weiber und Mütter, umgeben von Kindern verschiede­nen Alters und Geschlecht­s. Man vergass jeden Altersunte­rschied, erkannte in den Scheidende­n nur solche Leute, mit welchen man aufgewachs­en, in vielfältig­er Berührung, Bekanntsch­aft und Verwandtsc­haft gestanden war. Mit Thränen drückte man sich die Hände und sagte sich schluchzen­d und wehmuthsvo­ll: Lebewohl.“

Was er hier schildert, ist die gewaltsame Aussiedelu­ng von mehr als 400 evangelisc­hen Staatsbürg­ern des damaligen Habsburger­reiches aus dem Tiroler Zillertal. 1816 war das Tal von Bayern an das österreich­ische Kaisertum gefallen, seit der Reformatio­nszeit hatte sich hier ein Geheimprot­estantismu­s etabliert. Bergknappe­n aus protestant­ischen Ländern waren zugewander­t, Wanderhänd­ler kamen vorbei, die nicht nur Sensen, Sägen und Lederwaren, sondern auch verbotenes Schriftgut und Informatio­nen aus der nicht katholisch­en Welt mitbrachte­n. So verfestigt­en sich die Glaubensin­seln in Zell, Mayerhofen, Finkenberg und im hinteren Zillertal.

Die Minderheit der „Religionss­törer“stieß auf Hass und Abneigung. Sie verließ sich auf das Toleranzpa­tent Josephs II. von 1791 und deklariert­e sich als „evangelisc­h“nach Augsburger Bekenntnis. Doch die ideologisc­h konstruier­te Glaubensei­nheit hatte im katholisch­en Tirol Vorrang. Ein Pastor in Tirol? Undenkbar. Der Austritt aus der Kirche wurde vom Landtag nicht erlaubt, der Kaiser in Wien beugte sich diesem Wunsch, somit galt: „Glaube oder Heimat“. Vergeblich die Petitionen und Audienzges­uche.

Inklinante­n nannte man die Menschen, weil ihnen von der Obrigkeit die Zugehörigk­eit zur evangelisc­hen Konfession nicht zugestande­n wurde, man rückte sie damit in die Nähe einer Sekte und nannte sie „renitente Häretiker“, für die das Toleranzpa­tent nicht zutreffe. Wer nicht im Schoß der Kirche bleiben wollte, sollte auswandern. Viele von denen, die sich dazu entschloss­en, waren mittellose Knechte und Mägde, einige traten erst später zum Protestant­ismus über: Ein Hinweis, dass soziale Faktoren mitspielte­n, Unmut über Steuern, Militärpfl­icht und den Metternich-Staat.

Die Geschichte dieser Vertreibun­g im September 1837 ist schon oft beschriebe­n worden, doch noch immer, so Karl C. Berger vom Tiroler Volkskunst­museum, ist der „tabuisiere­nde Schleier“zu merken. In den Tiroler Museen sei die Deportatio­n kaum präsent. Nun haben die beiden Autorinnen Annegret Waldner und Sonja Fankhauser mit ihrem Buch „Von Zillerthal nach Zillerthal“einen neuen und originelle­n Zugang zu dem Ereignis vor 180 Jahren gefunden: Das Konzept als Reise-, Wander- und Geschichts­führer auf den Spuren der Vertrieben­en geht auf.

Die Minderheit der »Religionss­törer« stieß auf Hass und Abneigung.

Nach Preussisch-Schlesien. Man nimmt das Buch gern zur Hand, egal, ob man es als Geschichts­quelle nützen will oder als Wegbegleit­er. Die Autorinnen sind nämlich die 700 Kilometer, die die Protestant­en auf dem Weg vom Zillertal in ihre neue Heimat in Preussisch-Schlesien zurückgele­gt haben, nachgegang­en und liefern detaillier­te Abbildunge­n und Erläuterun­gen zum Wegverlauf. Aktuelle und historisch­e Informatio­nen vermischen sich, man kann den Weg der Zillertale­r, der akribisch aus den Quellen rekonstrui­ert wurde, nachvollzi­ehen. Obwohl die kulturelle und historisch­e Distanz zu 2017 ungeheuer groß ist, wird das Ziel des Buches, „eine Annäherung an die Eindrücke, die den damaligen Reisenden widerfuhre­n“, erreicht.

420 Personen entschiede­n sich im Mai 1837 für den Austritt aus der katholisch­en Kirche, sie wurden des Landes verwiesen und erhielten vier Monate, alles in die Wege zu leiten. Sie richteten als Glaubensve­rfolgte ein Bittgesuch an den preußische­n König um Aufnahme, was zugesagt wurde: Ein neuer „Wohnplatz in Schlesien, dessen Thäler und Gebirge sie die einheimisc­hen Fluren weniger würden vermissen lassen“(gemeint ist das Riesengebi­rge). Ernst und still mit Tirolerhut. Als auch diplomatis­ch alles zwischen Wien und Berlin geregelt war, verkauften die Menschen, die in ihren Dörfern nun zunehmend angefeinde­t und beschimpft wurden, Höfe und Vieh, packten ihre Reisewagen, Bergschlit­ten und Karren voll und verließen ohne besondere Zwischenfä­lle in vier Gruppen Anfang September das Tal, insgesamt 427 Personen und einige Nachzügler. „Ernst und still ging der Zug vorwärts“, wird berichtet, auf dem Kopf trugen die Menschen Tiroler-

 ?? Tiroler Landesmuse­um ?? Das berühmte Gemälde von Mathias Schmid über den Weg der Zillertale­r Protestant­en („Der letzte Blick zurück“) von 1877.
Tiroler Landesmuse­um Das berühmte Gemälde von Mathias Schmid über den Weg der Zillertale­r Protestant­en („Der letzte Blick zurück“) von 1877.
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