»Dann würde ich zur Hälfte CSU wählen«
Der umstrittene grüne Oberbürgermeister Boris Palmer spricht im Interview über Merkels schwer verdauliche Flüchtlingspolitik, das Umfragetief seiner Partei – und Juchtenkäfer, die ihn bei der Unterbringung von Asylwerbern behinderten.
Ich möcht nicht die Fresse halten“, sagt der hagere Mann mit dem grauen Dreitagebart auf der Bühne. Zuvor hat ihn eine Parteifreundin genau darum unsanft gebeten: „Einfach mal die Fresse halten“. Szenen eines grünen Parteitags. Boris Palmer, Oberbürgermeister im schwäbischen Tübingen, polarisiert wie kein zweiter Grüner. Regelmäßig bringt Palmer die Parteispitze auf die Palme, wenn er ein Foto von schwarzfahrenden Asylwerbern teilt, oder fordert, straffällige Syrer zurück ins Bürgerkriegsland zu schicken. Seine Gegner nennen ihn den grünen Sarrazin, seine Anhänger sehen in ihm einen Rebellen, der unbequeme Wahrheiten ausspricht. Jetzt hat er ein Buch zur Flüchtlingskrise geschrieben: „Wir können nicht allen helfen“. Herr Palmer, sagt Ihnen Peter Pilz etwas? Persönlich kenne ich ihn nicht. Ich habe von der Parteigründung gelesen. Genau. Und zuvor war er bei den Grünen auch mit seinem Flüchtlingskurs angeeckt. Sie sehen die Parallelen zu Ihrem Fall? Ich habe nicht eine Sekunde an einen Austritt gedacht. Ich habe einen Konflikt mit einem Teil der Partei in der Flüchtlingspolitik. Aber die Themenfelder, um die es mir eigentlich geht, Klimaschutz und Ökologie, da gibt es keine andere Partei, die das ernsthaft betreibt. Und ich überlass’ die Partei auch nicht denen, die einen unrealistischen Kurs in der Flüchtlingspolitik fahren wollen, der sich letztlich mit „offene Grenzen“übersetzen lässt. Ein paar Wochen vor der Wahl haben Sie Ihr Buch vorgestellt, mit der CDU-Politikerin Julia Klöckner. Sie müssen doch wissen, dass das Ihrer Partei schadet. Wieso tun Sie das? Diskutieren schadet nicht. Ich habe Verständnis dafür, dass die Funktionäre vor der Wahl Geschlossenheit herstellen wollen. Zugleich bitte ich um Verständnis dafür, dass ich will, dass dieses Thema, das mich umtreibt, vor und nicht nach der Wahl besprochen wird. Zumal ich glaube, dass die Debatte im ganzen Land falsch läuft. Die Flüchtlingspolitik wird im deutschen Wahlkampf tatsächlich kaum besprochen. Anders als in Österreich. Warum eigentlich? Es gibt nur eine Partei, die an einem Flüchtlingswahlkampf Interesse haben kann: die AfD. In Österreich gibt es ja auch rechtslastige Parteien, die aber durch Regierungsbeteiligungen erprobt sind. Die AfD ist dagegen eine rechtsnationale bis rechtsextreme Kraft, die man zu Recht nicht stärken will. Sie haben erklärt, dass die Flüchtlingspolitik vor der Wahl besprochen werden soll. Das würde dieser Logik zufolge der AfD nutzen. Nein, ein sachlicher Diskurs in Buchform hilft, die AfD zu entzaubern. Aber ein klassischer Parteienstreit, bei dem man sich im Wahlkampf gegenseitig Inkompetenz unterstellt, nützt der AfD. Sie plädieren für Sachlichkeit, schießen zugleich sehr schnell auf Facebook. Das geht nicht zusammen. Ich habe auf Facebook schon oft mit differenzierte Texten große Resonanz gefunden. Aber natürlich sind die Debatten dort härter, persönlicher, meinungsgetränkter. Die Meinungsbildung von immer mehr Menschen findet dort statt, zugleich dominieren rechtsextreme Kräfte den Diskurs dort in erstaunlicher Weise. Man muss sich dem stellen. Sie sagen, die Flüchtlingsdebatte läuft im ganzen Land falsch ab. Inwiefern? Kurz gesagt: Es wird zu viel verurteilt und moralisiert und zu wenig diskutiert und differenziert. Was dürfen Sie denn nicht sagen, ohne verurteilt zu werden? Sie können über Kriminalität von Flüchtlingen nicht reden, ohne dass sie
Boris Palmer (45)
wuchs in Geradstetten im Remstal (BadenWürttemberg) auf. Sein Vater, Helmut Palmer, legte sich immer wieder mit den Behörden an und bekam den Beinamen Remstal-Rebell. Boris Palmer studierte Mathematik und Geschichte für das Lehramt. 2006 wurde er Oberbürgermeister in Tübingen, einer Universitätsstadt mit knapp 90.000 Einwohnern und 2014 wiedergewählt. Sein neues Buch: „Wir können nicht allen helfen. Ein Grüner über Integration und die Grenzen der Belastbarkeit“(Siedler-Verlag). sofort mit Begriffen wie braune Soße und Hetze belegt werden. Das macht es sehr, sehr anstrengend. Und wenn man umgekehrt das Erreichte in den Vordergrund stellt, dann wird einem sofort Naivität oder im schlimmsten Fall der Wunsch zur Umvolkung Deutschlands unterstellt. Beide Seiten hören sich nicht zu. Dazwischen sitzt die Mehrheit der Leute und schüttelt den Kopf. Dann reden wir über Kriminalität. Gab es einen belegbaren überproportionalen Anstieg in Tübingen durch Asylwerber? Schwer zu sagen. Bundesweit haben die Zahlen stark zugenommen und das scheint sich in Tübingen zu spiegeln. Wir hatten eine Reihe sexueller Übergriffe und Vergewaltigungen, bei denen Asylwerber die Täter waren. Für eine signifikante Aussage ist Tübingen zu klein. Gedankenexperiment: Wen würden Sie denn wählen, wenn nur die Flüchtlingspolitik der Parteien zur Abstimmung stünde? Ich würde meine Partei zur Hälfte wählen, überall da, wo sie Menschlichkeit, Integration und Hilfe zum Maßstab macht, aber ich würde es ergänzen durch eine Hälfte CSU, wegen der nötigen Steuerung und Regulierung des Zustroms. Warum nicht eine Hälfte CDU? Angela Merkel ist programmatisch doch längst nicht mehr die Willkommenskanzlerin. Nein, ist sie nicht. In der Praxis unterscheidet sich ihre Politik gar nicht mehr von der CSU. Aber die Rhetorik kann ich nicht mittragen. Das erstaunliche an Angela Merkel ist ja, dass sie für ein halbes Jahr mit ihrer Politik der offenen Grenzen einen Kontrollverlust zugelassen hat, und den dann mit einem moralischen Imperativ so aufgeblasen hat, dass wir in Deutschland nur noch über Gut und Böse reden. Und nach einem halben Jahr war das alles vorbei und seither hat sie einen Pakt mit der Türkei gemacht und ist wahrscheinlich innerlich ganz froh, dass die Balkanroute geschlossen wurde. Diesen Politikstil finde ich schwer verdaulich. Sie haben 2015 geschrieben: „Wir schaffen das nicht“. Inzwischen sagen Sie selbst: „Wir schaffen das“. Haben Sie sich getäuscht? Nein. Als ich gesagte habe, wir schaffen es nicht, kamen täglich 10.000 Menschen. Heute sind es unter 1000 pro Tag. Noch immer viel, aber zehn Prozent der Belastung des Herbst 2015 schaffen wir selbstverständlich. Was würden Sie denn als Kanzler in der Flüchtlingspolitik inhaltlich anders machen? Den Wunsch vieler Deutscher, allen anderen europäischen Staaten Flüchtlinge aufzuzwingen, finde ich höchst gefährlich. Das kann gerade in den osteuropäischen Staaten dazu führen, dass noch mehr rechtsnationalistische Regierungen an die Macht kommen und dazu, dass Europa auseinander fällt. Deutschland hat eine solche Verteilung abgelehnt, solange die Flüchtlinge südlich der Alpen angekommen sind. Jetzt mangelnde Solidarität zu beklagen, hat etwas Unredliches. In der EU steht es in der Frage: 3 zu 24. Man muss sich daran gewöhnen, dass die große Mehrheit der Menschen zwar helfen will, aber kontrolliert und freiwillig, nicht unter deutschem Zwang. Wo liegen für den Oberbürgermeister Palmer heute die Herausforderungen vor Ort? Jetzt geht es um Spracherwerb, Integration in die Gesellschaft, Arbeit. Es gibt Prognosen, wonach ein Drittel auf Dauer arbeitslos bleiben wird und dass es zehn Jahre dauert, bis man wenigstens 70 Prozent in die Arbeit gebracht hat. Von einer Minderheit geht eine Gefahr durch Kriminalität aus. Am Anfang ging es darum, dass alle einmal ein Dach über dem Kopf haben. Da hat es die Politik versäumt, uns freie Hand zu geben. Wir ersticken in bürokratischen Regelungen. Ja, einmal waren Tennisplätze in der Nachbarschaft zu laut. Die Leute kommen aus Kriegsgebieten, können aber Tennisschläge nicht ertragen. Wir mussten das Haus umplanen, die Schlafräume zur Straße hin orientieren, weil Straßenlärm großzügiger behandelt wird als Tennislärm. In einem anderen Fall mussten wir ein Gebäude in zwei Teile zerschlagen, weil ein alter alleinstehender Baum auf dem Grund von Juchtenkäfern befallen war und nicht gefällt werden durfte. Skurril war der Fall eines Bauplatzes, der zu nahe an den Gerüchen eines Schafstalls war. Kurz zum Wahlkampf: Die Grünen verharren sowohl in Österreich als in Deutschland im Umfragetief. Haben Sie eine Erklärung? Ich beobachte nur, dass unser Thema Klimaschutz an Bedeutung gewinnt, ohne dass sich unsere Wahlergebnisse verbessern. Ich denke, die Grünen sind am besten bedient, wenn sie das Umweltthema stärker betonen, als das in der jüngeren Zeit der Fall war. Wobei die Deutschen zwar die größte Angst vor dem Klimawandel haben. Fragt man Sie aber nach den wichtigen politischen Problemen steht Umwelt ziemlich weit unten und Ausländer/Integration/Flüchtlinge oben. Und da traut man den Grünen wenig zu. Diejenigen, die sich für Asyl, Flüchtlinge und Bürgerrechte einsetzen, trauen den Grünen da sehr viel zu. Was uns fehlt, ist die komplementäre Kompetenz, das ganze mit Sicherheit, Ordnung und Regeln zu verbinden. Wieso tut sich Ihre Partei damit so schwer? Wer Gutes tun will, geht davon aus, dass die Hilfe, die er leistet, von den Menschen gebraucht wird. Es ist dann eine große Enttäuschung zu sehen, dass da zu viele dabei sind, die diese Hilfe weder brauchen, noch danken. Sich das einzugestehen, ist schwierig.