Die rot-grünen Jubeljahre sind lang vorbei
In der Merkel-Ära schrumpften die Ex-Koalitionspartner SPD und Grüne. Heute droht die nächste Schlappe. Wie sich Mitglieder und Anhänger die Krise erklären, und warum manche in die Opposition drängen – und andere in die Regierung.
Rote Luftballons hängen prall aufgepumpt über dem Gendarmenmarkt. „Es ist Zeit für Martin Schulz“prangt darauf. Rot ist im historischen Zetrum Berlins zwischen dem Deutschen und dem Französischen Dom überhaupt die Signalfarbe an diesem lauen Spätnachmittag, 48 Stunden vor der ersten Hochrechnung am Sonntagabend. Rot sind die Rosen und die Fahnen – und selbst der Schal, den Eva Menasse um den Hals geschlungen hat, leuchtet tiefrot vom Podium. Zum großen Wahlkampffinale hat sich auch die Schriftstellerin, die Wahlberlinerin aus Wien, auf der Bühne eingefunden, um Schulz auf den letzten Metern des Wahlkampfmarathons anzufeuern. Als Begrüßung bekommt sie ein Küsschen auf die Wange.
Während der SPD-Kanzlerkandidat, ein schon müder Matador, mit seiner Minister-Entourage auf dem Platz einzieht, reckt ein wackerer Anhänger sein Schild in die Höhe: „London, Paris, New York, Würselen“– eine Hommage an die rheinische Herkunft des Parteichefs und langjährigen Europapolitikers. Die Tafel erinnert an den Hype um den 61-Jährigen im Frühjahr. Doch die Luft ist längst entwichen.
Hier in Berlin hatten ihn Delegierte unter lautem Gejohle zum SPD-Chef, ja, zu ihrem Heilsbringer gewählt – mit sagenhaften 100 Prozent. Das gelang nicht einmal seinem Idol Willy Brandt. Ein halbes Jahr ist dem Parteitag verstrichen, eine gefühlte Ewigkeit. Dazwischen liegen drei Landtagswahlpleiten und ein Absturz in den Umfragen, die die SPD inzwischen in der Nähe des historischen Debakels aus dem Jahr 2009 ausweisen: 23 Prozent. Kardinalfehler im roten Herzland. Der politische Niedergang des Buchhändlers aus Würselen fing im kleinen Saarland an, wo Schulz im März mit der Linkspartei flirtete – und so erst die CDU-Wähler mobilisierte. Bis heute warnt die Union im Wahlkampf vor dem rot-rot-grünen Schreckgespenst. „Keine Experimente“, lautet ihre Devise, die in die Adenauer-Ära zurückgeht. Am Ende der Serie an Wahlschlappen hatte die SPD auch ihr Stammland Nordrhein-Westfalen (NRW), die Heimat von Martin Schulz, an eine schwarz-gelbe Koalition verloren. Im roten Herzland hatte Schulz den taktischen Kardinalfehler gemacht. Die SPD-Ministerpräsidentin Hannelore Kraft hatte ihn damals gebeten, die Bundespolitik im Landeswahlkampf herauszuhalten. Schulz tauchte ab – und danach nie wieder so richtig auf.
Zwischen den Niederlagen im Saarland und in NRW liegt jene in Schles- wig-Holstein, die der SPD-Ministerpräsident Torsten Albig de facto im Alleingang zu verantworten hatte. In einem „Bunte“-Interview hatte er in Machoattitüde beklagt, dass er und seine Frau nicht mehr auf einer Augenhöhe seien. Deshalb habe er sie verlassen.
Auf dem Gendarmenmarkt, weit hinten in der Menge, lauscht Albig der Standardwahlkampfrede des Spitzenkandidaten Schulz, die er aufgepeppt hat mit Warnungen vor den Hetzern der AfD – „Totengräbern der Demokratie“– und Häme über die „Schlaftablettenpolitik“der Kanzlerin. Die schlechten Umfragewerte der SPD führt er auf die Rolle des Juniorpartners in der GroKo, der Großen Koalition, zurück.
Die beiden Parteien würden sich gegenseitig die Energie rauben, analysiert er. Nach den gemeinsamen Jahren falle es eben schwer, in den „Nahkampf“überzugehen und für die nötige Polarisierung zu sorgen, sagt er gegenüber der „Presse am Sonntag“. Der Mann weiß, wovon er spricht. Immerhin gehörte er als Pressesprecher des SPD-Finanzministers Peer Steinbrück selbst vier Jahre der Regierung Merkel an. Hoffen auf ein Ende der Merkel-Ära. Merkel, immer wieder Merkel. Wenn sie denn endlich einmal weg sei, so üben sich manche SPD-Mitglieder in Zweckoptimismus, würden sich für die Sozialdemokraten neue Chancen eröffnen – wie nach Ende der Ära Helmut Kohls. Angesichts der instabilen Weltlage bediene die Kanzlerin das Bedürfnis der Deutschen nach Sicherheit und Stabilität, urteilt Henning Baden. „Ich hätte mir einen Gegenentwurf zur AfD gewünscht und auch mehr Esprit im Wahlkampf“, sagt der 34-jährige PR-Experte, ein SPD-Mitglied. Zugleich glaubt er: „Wir besetzten die Zukunftsthemen, klassische SPD-Themen: Soziale Gerechtigkeit, Rente, Bildung.“
Baden plädiert für eine Erholung der SPD in der Opposition – umso dringender für den Fall, dass die AfD tatsächlich auf dem dritten Platz landen sollte. „Dann braucht es eine schlagkräftige Opposition, unter Führung der SPD.“Von der Bühne herab gibt Eva Menasse der SPD den Rat, der AfD eine akzentuiert linke Politik entgegenzusetzen. Dies sei für sie die Lektion aus dem FPÖ-Boom unter Jörg Haider.
An der Basis, erzählen Funktionäre von ihren Eindrücken im Wahlkampf, sei die Stimmung jedenfalls ganz klar für den Gang in die Opposition. „Die Große Koalition stärkt nur die Ränder.“Eine Wahlhelferin, die 31-jährige Sasa Raber, einst Aktivistin der Piratenpartei und erst seit einem Jahr SPD-Mitglied, bringt die Losung in der SPD-Hochburg Berlin-Neukölln auf den Punkt: „Jetzt muss die junge Generation zum Zug kommen. Wir müssen eine Vision für die Gesellschaft formulieren. Ich kann die Frustration gut verstehen. Ich weiß, was Armut heißt.“
Jünger, weiblicher, dynamischer: Die SPD müsse sich runderneuern, ein moderneres Image aufbauen, wie dies die CDU unter Merkel vorexerziert habe, findet auch Henning Baden. „Wir haben Politikerinnen wie Andrea Nahles und Manuela Schwesig, aber auch Leute aus der zweiten und dritten Reihe wie Michelle Müntefering.“Letztere ist die Frau des SPD-Urgesteins Franz Müntefering, der ein für alle Mal postuliert hat: „Opposition ist Mist.“ Die Arbeiterschicht zerbröselt. Ein Rentner, bereits seit 35 Jahren Mitglied in der ältesten Partei Deutschlands, schwenkt freudlos seine rote Fahne. „So schlecht war’s noch nie“, sagt er. Merkel habe seine SPD ausgesaugt. Die Kanzlerin preise auf den Marktplätzen den Mindestlohn, den ihr die SPD doch mühsam abgerungen hatte. Die Sozialdemokraten hätten der Koalition den Stempel aufgedrückt, doch die Erfolge würden allein der Kanzlerin zugeschrieben: Es ist ein Lamento, das allenthalben ertönt – auf dem Gendarmenmarkt in Berlin wie im Ruhrpott in Dortmund. „Meine Tanten glauben ja auch, das sei alles Merkel zu verdanken“, beschreibt Frank, ein 27-jähriger Funktionär aus Essen, das Dilemma der
Die SPD
erzielte bei der Bundestagswahl mit ihrem Kanzlerkandidaten Peer Steinbrück, dem ExFinanzminister, 25,7 Prozent. Die Grünen erreichten 8,4 Prozent.
Mit ihrem Spitzenkandidaten FrankWalter Steinmeier,
dem langjährigen Außenminister und heutigen Bundespräsidenten, stürzten die Sozialdemokraten auf einen historischen Tiefstand ab: 23 Prozent zwangen sie in die Opposition. Währenddessen errangen die Grünen mit 10,7 Prozent das beste Ergebnis ihrer Geschichte bei einer Bundestagswahl. Sozialdemokraten. Trotzdem noch einmal Große Koalition? Der Mann tippt sich mit dem Zeigefinger auf den Bauch: „Nie wieder!“Das sagt also sein Bauch. Und die Vernunft? Der Kopf, betont er, wolle nicht einer Partei wie der FDP das Land überlassen. Einer Umfrage zufolge wünschen sich selbst 38 Prozent der SPD-Wähler Angela Merkel als Kanzlerin.
Das Problem der Sozialdemokraten geht tiefer: Die alte Arbeiterschicht zerbröselt. Gerhard Schröders Agenda-Reformen haben tiefe Wunden geschlagen, die noch nicht verheilt sind. Die Linkspartei nährt sich bis heute aus dem Reservoir von verprellten Sozialdemokraten, die die Hartz-IV-Reform vor einem Dutzend Jahren der Truppe um Oskar Lafontaine und Gregor Gysi in die Arme getrieben hat. Inhaltlich trauen die Deutschen der SPD nur in der Frage der „sozialen Gerechtigkeit“mehr zu als der Union. Doch der Zeitgeist ist zurzeit nicht auf der Seite der Sozialdemokratie. Die Deutschen bewegen derzeit angesichts der latenten Terrorgefahr und der Flüchtlingsproblematik verstärkt Fragen der „inneren Sicherheit“. An diesem Wahlsonntag wird die Bundesrepublik ein Stück weit nach rechts rücken.
»So schlecht war’s noch nie«, sagt der Rentner und schwenkt freudlos die SPD-Fahne. Die Grünen sind zu »brav« geworden. Da ist man sich einig.
Das bekommen auch die Grünen zu spüren, die sieben Jahre als Juniorpartner der SPD in der Regierung agierten – mit manchen Krämpfen wie der Kontroverse um die Nato-Angriffe im Kosovo-Krieg oder um den Einsatz der Bundeswehr im Ausland, ehemals Tabuthemen der Ökopartei. Mit der überfallsartigen Energiewende begann Angela Merkel im grünen Biotop zu wildern. Sie stilisierte sich zur „Klimakanzlerin“. Die Grünen stürzten in eine Identitätskrise, in eine Midlife-Crisis nach rund 40 Jahren.
An der Grenze zwischen BerlinMitte und Kreuzberg, ihren alten Bastionen – nur ein paar Hundert Meter vom Gendarmenmarkt entfernt – feiern die Grünen zeitgleich mit der SPD ihre