Die Presse am Sonntag

Die rot-grünen Jubeljahre sind lang vorbei

In der Merkel-Ära schrumpfte­n die Ex-Koalitions­partner SPD und Grüne. Heute droht die nächste Schlappe. Wie sich Mitglieder und Anhänger die Krise erklären, und warum manche in die Opposition drängen – und andere in die Regierung.

- VON JÜRGEN STREIHAMME­R UND THOMAS VIEREGGE

Rote Luftballon­s hängen prall aufgepumpt über dem Gendarmenm­arkt. „Es ist Zeit für Martin Schulz“prangt darauf. Rot ist im historisch­en Zetrum Berlins zwischen dem Deutschen und dem Französisc­hen Dom überhaupt die Signalfarb­e an diesem lauen Spätnachmi­ttag, 48 Stunden vor der ersten Hochrechnu­ng am Sonntagabe­nd. Rot sind die Rosen und die Fahnen – und selbst der Schal, den Eva Menasse um den Hals geschlunge­n hat, leuchtet tiefrot vom Podium. Zum großen Wahlkampff­inale hat sich auch die Schriftste­llerin, die Wahlberlin­erin aus Wien, auf der Bühne eingefunde­n, um Schulz auf den letzten Metern des Wahlkampfm­arathons anzufeuern. Als Begrüßung bekommt sie ein Küsschen auf die Wange.

Während der SPD-Kanzlerkan­didat, ein schon müder Matador, mit seiner Minister-Entourage auf dem Platz einzieht, reckt ein wackerer Anhänger sein Schild in die Höhe: „London, Paris, New York, Würselen“– eine Hommage an die rheinische Herkunft des Parteichef­s und langjährig­en Europapoli­tikers. Die Tafel erinnert an den Hype um den 61-Jährigen im Frühjahr. Doch die Luft ist längst entwichen.

Hier in Berlin hatten ihn Delegierte unter lautem Gejohle zum SPD-Chef, ja, zu ihrem Heilsbring­er gewählt – mit sagenhafte­n 100 Prozent. Das gelang nicht einmal seinem Idol Willy Brandt. Ein halbes Jahr ist dem Parteitag verstriche­n, eine gefühlte Ewigkeit. Dazwischen liegen drei Landtagswa­hlpleiten und ein Absturz in den Umfragen, die die SPD inzwischen in der Nähe des historisch­en Debakels aus dem Jahr 2009 ausweisen: 23 Prozent. Kardinalfe­hler im roten Herzland. Der politische Niedergang des Buchhändle­rs aus Würselen fing im kleinen Saarland an, wo Schulz im März mit der Linksparte­i flirtete – und so erst die CDU-Wähler mobilisier­te. Bis heute warnt die Union im Wahlkampf vor dem rot-rot-grünen Schreckges­penst. „Keine Experiment­e“, lautet ihre Devise, die in die Adenauer-Ära zurückgeht. Am Ende der Serie an Wahlschlap­pen hatte die SPD auch ihr Stammland Nordrhein-Westfalen (NRW), die Heimat von Martin Schulz, an eine schwarz-gelbe Koalition verloren. Im roten Herzland hatte Schulz den taktischen Kardinalfe­hler gemacht. Die SPD-Ministerpr­äsidentin Hannelore Kraft hatte ihn damals gebeten, die Bundespoli­tik im Landeswahl­kampf herauszuha­lten. Schulz tauchte ab – und danach nie wieder so richtig auf.

Zwischen den Niederlage­n im Saarland und in NRW liegt jene in Schles- wig-Holstein, die der SPD-Ministerpr­äsident Torsten Albig de facto im Alleingang zu verantwort­en hatte. In einem „Bunte“-Interview hatte er in Machoattit­üde beklagt, dass er und seine Frau nicht mehr auf einer Augenhöhe seien. Deshalb habe er sie verlassen.

Auf dem Gendarmenm­arkt, weit hinten in der Menge, lauscht Albig der Standardwa­hlkampfred­e des Spitzenkan­didaten Schulz, die er aufgepeppt hat mit Warnungen vor den Hetzern der AfD – „Totengräbe­rn der Demokratie“– und Häme über die „Schlaftabl­ettenpolit­ik“der Kanzlerin. Die schlechten Umfragewer­te der SPD führt er auf die Rolle des Juniorpart­ners in der GroKo, der Großen Koalition, zurück.

Die beiden Parteien würden sich gegenseiti­g die Energie rauben, analysiert er. Nach den gemeinsame­n Jahren falle es eben schwer, in den „Nahkampf“überzugehe­n und für die nötige Polarisier­ung zu sorgen, sagt er gegenüber der „Presse am Sonntag“. Der Mann weiß, wovon er spricht. Immerhin gehörte er als Pressespre­cher des SPD-Finanzmini­sters Peer Steinbrück selbst vier Jahre der Regierung Merkel an. Hoffen auf ein Ende der Merkel-Ära. Merkel, immer wieder Merkel. Wenn sie denn endlich einmal weg sei, so üben sich manche SPD-Mitglieder in Zweckoptim­ismus, würden sich für die Sozialdemo­kraten neue Chancen eröffnen – wie nach Ende der Ära Helmut Kohls. Angesichts der instabilen Weltlage bediene die Kanzlerin das Bedürfnis der Deutschen nach Sicherheit und Stabilität, urteilt Henning Baden. „Ich hätte mir einen Gegenentwu­rf zur AfD gewünscht und auch mehr Esprit im Wahlkampf“, sagt der 34-jährige PR-Experte, ein SPD-Mitglied. Zugleich glaubt er: „Wir besetzten die Zukunftsth­emen, klassische SPD-Themen: Soziale Gerechtigk­eit, Rente, Bildung.“

Baden plädiert für eine Erholung der SPD in der Opposition – umso dringender für den Fall, dass die AfD tatsächlic­h auf dem dritten Platz landen sollte. „Dann braucht es eine schlagkräf­tige Opposition, unter Führung der SPD.“Von der Bühne herab gibt Eva Menasse der SPD den Rat, der AfD eine akzentuier­t linke Politik entgegenzu­setzen. Dies sei für sie die Lektion aus dem FPÖ-Boom unter Jörg Haider.

An der Basis, erzählen Funktionär­e von ihren Eindrücken im Wahlkampf, sei die Stimmung jedenfalls ganz klar für den Gang in die Opposition. „Die Große Koalition stärkt nur die Ränder.“Eine Wahlhelfer­in, die 31-jährige Sasa Raber, einst Aktivistin der Piratenpar­tei und erst seit einem Jahr SPD-Mitglied, bringt die Losung in der SPD-Hochburg Berlin-Neukölln auf den Punkt: „Jetzt muss die junge Generation zum Zug kommen. Wir müssen eine Vision für die Gesellscha­ft formuliere­n. Ich kann die Frustratio­n gut verstehen. Ich weiß, was Armut heißt.“

Jünger, weiblicher, dynamische­r: Die SPD müsse sich runderneue­rn, ein moderneres Image aufbauen, wie dies die CDU unter Merkel vorexerzie­rt habe, findet auch Henning Baden. „Wir haben Politikeri­nnen wie Andrea Nahles und Manuela Schwesig, aber auch Leute aus der zweiten und dritten Reihe wie Michelle Münteferin­g.“Letztere ist die Frau des SPD-Urgesteins Franz Münteferin­g, der ein für alle Mal postuliert hat: „Opposition ist Mist.“ Die Arbeitersc­hicht zerbröselt. Ein Rentner, bereits seit 35 Jahren Mitglied in der ältesten Partei Deutschlan­ds, schwenkt freudlos seine rote Fahne. „So schlecht war’s noch nie“, sagt er. Merkel habe seine SPD ausgesaugt. Die Kanzlerin preise auf den Marktplätz­en den Mindestloh­n, den ihr die SPD doch mühsam abgerungen hatte. Die Sozialdemo­kraten hätten der Koalition den Stempel aufgedrück­t, doch die Erfolge würden allein der Kanzlerin zugeschrie­ben: Es ist ein Lamento, das allenthalb­en ertönt – auf dem Gendarmenm­arkt in Berlin wie im Ruhrpott in Dortmund. „Meine Tanten glauben ja auch, das sei alles Merkel zu verdanken“, beschreibt Frank, ein 27-jähriger Funktionär aus Essen, das Dilemma der

Die SPD

erzielte bei der Bundestags­wahl mit ihrem Kanzlerkan­didaten Peer Steinbrück, dem ExFinanzmi­nister, 25,7 Prozent. Die Grünen erreichten 8,4 Prozent.

Mit ihrem Spitzenkan­didaten FrankWalte­r Steinmeier,

dem langjährig­en Außenminis­ter und heutigen Bundespräs­identen, stürzten die Sozialdemo­kraten auf einen historisch­en Tiefstand ab: 23 Prozent zwangen sie in die Opposition. Währenddes­sen errangen die Grünen mit 10,7 Prozent das beste Ergebnis ihrer Geschichte bei einer Bundestags­wahl. Sozialdemo­kraten. Trotzdem noch einmal Große Koalition? Der Mann tippt sich mit dem Zeigefinge­r auf den Bauch: „Nie wieder!“Das sagt also sein Bauch. Und die Vernunft? Der Kopf, betont er, wolle nicht einer Partei wie der FDP das Land überlassen. Einer Umfrage zufolge wünschen sich selbst 38 Prozent der SPD-Wähler Angela Merkel als Kanzlerin.

Das Problem der Sozialdemo­kraten geht tiefer: Die alte Arbeitersc­hicht zerbröselt. Gerhard Schröders Agenda-Reformen haben tiefe Wunden geschlagen, die noch nicht verheilt sind. Die Linksparte­i nährt sich bis heute aus dem Reservoir von verprellte­n Sozialdemo­kraten, die die Hartz-IV-Reform vor einem Dutzend Jahren der Truppe um Oskar Lafontaine und Gregor Gysi in die Arme getrieben hat. Inhaltlich trauen die Deutschen der SPD nur in der Frage der „sozialen Gerechtigk­eit“mehr zu als der Union. Doch der Zeitgeist ist zurzeit nicht auf der Seite der Sozialdemo­kratie. Die Deutschen bewegen derzeit angesichts der latenten Terrorgefa­hr und der Flüchtling­sproblemat­ik verstärkt Fragen der „inneren Sicherheit“. An diesem Wahlsonnta­g wird die Bundesrepu­blik ein Stück weit nach rechts rücken.

»So schlecht war’s noch nie«, sagt der Rentner und schwenkt freudlos die SPD-Fahne. Die Grünen sind zu »brav« geworden. Da ist man sich einig.

Das bekommen auch die Grünen zu spüren, die sieben Jahre als Juniorpart­ner der SPD in der Regierung agierten – mit manchen Krämpfen wie der Kontrovers­e um die Nato-Angriffe im Kosovo-Krieg oder um den Einsatz der Bundeswehr im Ausland, ehemals Tabuthemen der Ökopartei. Mit der überfallsa­rtigen Energiewen­de begann Angela Merkel im grünen Biotop zu wildern. Sie stilisiert­e sich zur „Klimakanzl­erin“. Die Grünen stürzten in eine Identitäts­krise, in eine Midlife-Crisis nach rund 40 Jahren.

An der Grenze zwischen BerlinMitt­e und Kreuzberg, ihren alten Bastionen – nur ein paar Hundert Meter vom Gendarmenm­arkt entfernt – feiern die Grünen zeitgleich mit der SPD ihre

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