Die katalanischen Geisterfahrer
Das Unabhängigkeitsreferendum am heutigen Sonntag kann nur ungültig sein. Es ist verfassungswidrig und eine freie Stimmabgabe unmöglich. Madrid müsste einem Scheidungsverfahren zustimmen.
Europa ist nicht nur mit unterschiedlichen Geschwindigkeiten unterwegs, sondern auch in entgegengesetzte Richtungen. Während Frankreichs Präsident Macron Visionen einer Allinclusive-Eurozone samt Superfinanzminister und üppigem Kollektivbudget hat, steigen in Katalonien Geisterfahrer aufs Gas. Auf Biegen und Brechen wollen Nationalisten heute, Sonntag, ihr Unabhängigkeitsreferendum durchpeitschen. Wie immer das Votum ausgeht, eines ist schon jetzt klar: Es kann nie und nimmer gültig sein.
Denn erstens stellt der Urnengang, den das katalanische Regionalparlament ohne Absprache mit Madrid angesetzt hat, einen klaren Verstoß gegen die spanische Verfassung dar. Und zweitens ist eine freie Abgabe der Stimmen unter den gegebenen Bedingungen unmöglich. Die spanischen Behörden schießen aus allen Rohren gegen den Volksentscheid: Sie ließen Wahllokale sperren, Millionen Stimmzettel konfiszieren und katalanische Beamte festnehmen.
Die harte Vorgangsweise mag auch kontraproduktiv sein und den Opferdiskurs der Sezessionisten befeuern. Doch was wäre die Alternative für Spaniens Regierung? Soll sie zuschauen, wie der Staat zerfällt? Sobald es aus Pandoras Büchse entwichen ist, wird sich das separatistische Virus ausbreiten, erst aufs Baskenland und dann auf den Rest Europas. Spinner. Natürlich kann Katalonien eine Scheidung anstreben, wenn es denn sein muss. Es ist legitim, sich auf das Selbstbestimmungsrecht der Völker zu berufen. Doch das Völkerrecht kennt auch die territoriale Integrität der Staaten – und Spaniens Verfassung die „Einheit der Nation“. Der einzige Weg zur Trennung, der rechtlich offenstünde und politisch Sinn ergäbe, wäre ein einvernehmlicher. Nur wenn Madrid einem Scheidungsverfahren (und einer Verfassungsänderung) zustimmt, hat ein eigenständiges Katalonien Zukunft. Außerhalb der EU hätten die 7,5 Millionen Einwohner der Region kaum Aussicht, ihre Wirtschaft auf Touren zu halten. Für eine Aufnahme in die EU brauchten sie jedoch das S´ı aus Madrid.
Der Karren ist verfahren. Dabei schien die Lösung nah. Es war ein kurzsichtiger Fehler des jetzigen Premiers Rajoy, 2006 als Oppositionschef gegen die von der damaligen spanischen Regierung abgesegnete Reform des katalanischen Autonomiestatuts zu klagen. Erst seither haben Kataloniens Separatisten Oberwasser. Davor galten sie als radikale Spinner.
Auch heute wäre es keineswegs ausgemacht, dass bei einem Plebiszit eine Mehrheit zugunsten der Abspaltung Kataloniens zustande käme. Für eine solche Abstimmung müssten die Sturköpfe in Madrid und Barcelona jedoch erst Voraussetzungen auf dem Verhandlungsweg finden, wie das London und Schottland beim Referendum 2014 gelang. In Spanien ist das nicht absehbar. Starrsinn und Eskalationsbereitschaft scheinen auf beiden Seiten zum Machtkalkül zu gehören. Die Lage kann deshalb schnell außer Kontrolle geraten. Die EU-Kommission, die ja auch in anderen Ländern nicht vor Einmischung zurückscheut, wäre gut beraten, sich einzuschalten. Doch Brüssel schaut weg – und schwelgt lieber in Eurozonenutopien.