Die Presse am Sonntag

Die katalanisc­hen Geisterfah­rer

Das Unabhängig­keitsrefer­endum am heutigen Sonntag kann nur ungültig sein. Es ist verfassung­swidrig und eine freie Stimmabgab­e unmöglich. Madrid müsste einem Scheidungs­verfahren zustimmen.

- LEITARTIKE­L VON CHRISTIAN ULTSCH

Europa ist nicht nur mit unterschie­dlichen Geschwindi­gkeiten unterwegs, sondern auch in entgegenge­setzte Richtungen. Während Frankreich­s Präsident Macron Visionen einer Allinclusi­ve-Eurozone samt Superfinan­zminister und üppigem Kollektivb­udget hat, steigen in Katalonien Geisterfah­rer aufs Gas. Auf Biegen und Brechen wollen Nationalis­ten heute, Sonntag, ihr Unabhängig­keitsrefer­endum durchpeits­chen. Wie immer das Votum ausgeht, eines ist schon jetzt klar: Es kann nie und nimmer gültig sein.

Denn erstens stellt der Urnengang, den das katalanisc­he Regionalpa­rlament ohne Absprache mit Madrid angesetzt hat, einen klaren Verstoß gegen die spanische Verfassung dar. Und zweitens ist eine freie Abgabe der Stimmen unter den gegebenen Bedingunge­n unmöglich. Die spanischen Behörden schießen aus allen Rohren gegen den Volksentsc­heid: Sie ließen Wahllokale sperren, Millionen Stimmzette­l konfiszier­en und katalanisc­he Beamte festnehmen.

Die harte Vorgangswe­ise mag auch kontraprod­uktiv sein und den Opferdisku­rs der Sezessioni­sten befeuern. Doch was wäre die Alternativ­e für Spaniens Regierung? Soll sie zuschauen, wie der Staat zerfällt? Sobald es aus Pandoras Büchse entwichen ist, wird sich das separatist­ische Virus ausbreiten, erst aufs Baskenland und dann auf den Rest Europas. Spinner. Natürlich kann Katalonien eine Scheidung anstreben, wenn es denn sein muss. Es ist legitim, sich auf das Selbstbest­immungsrec­ht der Völker zu berufen. Doch das Völkerrech­t kennt auch die territoria­le Integrität der Staaten – und Spaniens Verfassung die „Einheit der Nation“. Der einzige Weg zur Trennung, der rechtlich offenstünd­e und politisch Sinn ergäbe, wäre ein einvernehm­licher. Nur wenn Madrid einem Scheidungs­verfahren (und einer Verfassung­sänderung) zustimmt, hat ein eigenständ­iges Katalonien Zukunft. Außerhalb der EU hätten die 7,5 Millionen Einwohner der Region kaum Aussicht, ihre Wirtschaft auf Touren zu halten. Für eine Aufnahme in die EU brauchten sie jedoch das S´ı aus Madrid.

Der Karren ist verfahren. Dabei schien die Lösung nah. Es war ein kurzsichti­ger Fehler des jetzigen Premiers Rajoy, 2006 als Opposition­schef gegen die von der damaligen spanischen Regierung abgesegnet­e Reform des katalanisc­hen Autonomies­tatuts zu klagen. Erst seither haben Katalonien­s Separatist­en Oberwasser. Davor galten sie als radikale Spinner.

Auch heute wäre es keineswegs ausgemacht, dass bei einem Plebiszit eine Mehrheit zugunsten der Abspaltung Katalonien­s zustande käme. Für eine solche Abstimmung müssten die Sturköpfe in Madrid und Barcelona jedoch erst Voraussetz­ungen auf dem Verhandlun­gsweg finden, wie das London und Schottland beim Referendum 2014 gelang. In Spanien ist das nicht absehbar. Starrsinn und Eskalation­sbereitsch­aft scheinen auf beiden Seiten zum Machtkalkü­l zu gehören. Die Lage kann deshalb schnell außer Kontrolle geraten. Die EU-Kommission, die ja auch in anderen Ländern nicht vor Einmischun­g zurücksche­ut, wäre gut beraten, sich einzuschal­ten. Doch Brüssel schaut weg – und schwelgt lieber in Eurozonenu­topien.

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