Die Presse am Sonntag

Die große Freiheit ist vorbei

Die EU feilt an einer Copyright-Reform und nimmt dafür womöglich große Kollateral­schäden in Kauf. Forscher warnen vor einem Exodus der Start-ups und einem Ende der Innovation.

- VON MATTHIAS AUER

Vor zehn Jahren war das Wehklagen der Musik- und Filmindust­rie nicht zu überhören. Illegale Raubkopien im Netz kosteten den Plattenlab­els allein auf dem amerikanis­chen Markt jährlich rund 20 Milliarden US-Dollar, hieß es damals. Und in Europa sehe die Lage nicht anders aus.

Alles Unsinn, behauptet nun eine Studie, die seit zwei Jahren unveröffen­tlicht in den Schubladen der EUKommissi­on ruht. In Vorbereitu­ng auf die anstehende Reform des Urheberrec­hts in Europa hat die Behörde die niederländ­ische Beratungsf­irma Ecorys ausgeschic­kt, um zu berechnen, wie sehr die illegalen Angebote im Netz den legalen Konsum von Filmen, Musik, Büchern und Videospiel­en verdrängen. Das Ergebnis: praktisch gar nicht. Einzig große Hollywood-Blockbuste­r werden deutlich seltener im Kino angesehen, wenn sie vorher schon illegal im Netz zu haben sind. Die Musikindus­trie hingegen könne den Rückgang bei Albenverkä­ufen dadurch ausgleiche­n, dass Downloader deutlich öfter in Livekonzer­te gehen. Für sie sei die Onlinepira­terie ein Nullsummen­spiel. Und in der Videospiel­branche stärkten die illegalen Downloads sogar das Geschäft, heißt es in der EU-Studie.

Aufgestöbe­rt hat das 300-SeitenPapi­er die Europaabge­ordnete Julia Reda (Grüne/Piraten). Die Kommission dürfte mit dem Ergebnis nicht unbedingt zufrieden gewesen sein, mutmaßt sie. In jedem Fall kommt die Veröffentl­ichung für Brüssel zu einem sehr ungünstige­n Zeitpunkt. Die Kommission feilt seit Langem an schärferen Regeln für Urheberrec­hte im Internet. Schon am 10. Oktober soll das Legal Affairs Committee erstmals über die Copyright-Reform abstimmen.

Dass Europa neue Regeln braucht, steht außer Frage. Mit den 16 Jahre alten Gesetzen lassen sich IT-Giganten wie Google und Co. heute nicht mehr einfangen. Die Copyright-Reform soll kleinen Rechteinha­bern bei der Durchsetzu­ng ihrer Rechte gegen große Plattforme­n wie YouTube helfen. Und das geplante Ende des Geoblockin­gs wird all jene freuen, die heute neidisch auf das Netflix-Angebot in anderen EULändern blicken. Doch die großen Streitpunk­te liegen ganz woanders. Unternehme­n mit Ablaufdatu­m. Heikel ist etwa Artikel 13, in dem die EU automatisi­erte Inhaltsfil­ter vorschreib­t. Betreiber von Websites müssten demnach technische Filter einbauen, die vorab prüfen, ob Nutzer Inhalte hochladen, die urheberrec­htlich geschützt sind. Derzeit reicht es, wenn der Rechteinha­ber den Betreiber auf einen Verstoß aufmerksam macht – und dieser den Inhalt dann löscht.

Während manche aus der Kreativsze­ne diesen „ersten Schritt zum Ende der großen Freifahrt für Tech-Giganten“feiern, warnen andere, dass die EU das Internet, wie wir es kennen, vernichten könnte. Der Firefox-Entwickler Mozilla wettert gegen den „dysfunktio­nalen Vorschlag“, der etwa Wikipedia zwingen könnte, jede kleinste Änderung der Nutzer zu prüfen – was das gesamte System des selbst verwaltete­n Online-Lexikons ad absurdum führen würde. Die EU ziele zwar gegen Google, drohe aber, die Falschen zu treffen, warnt Julia Reda regelmäßig. „Die Reform macht die Großen nur stärker“, bekräftigt auch Martin Senftleben, Professor für Geistiges Eigentum an der Uni Amsterdam. Auf einer gemeinsame­n Veranstalt­ung mit der Europaabge­ordneten warnte er vor großen Kollateral­schäden, sollte die EU die Reform wie geplant umsetzen.

Konkret geht es um jenen Passus, mit dem Brüssel das Sammeln und Analysiere­n frei zugänglich­er Texte und Daten aus dem Internet nur noch Wissenscha­ftlern ohne Einschränk­ungen erlauben will. Start-ups, die sich etwa mit den Zukunftsth­emen künstliche­r Intelligen­z oder Big Data beschäftig­en, hätten hingegen nur drei Jahre lang die Chance, die öffentlich­en Daten kommerziel­l zu nutzen. Danach müssten sie die Zustimmung jedes einzelnen Rechteinha­bers einholen.

Dass Europa neue Regeln braucht, scheint klar. Doch schießt Brüssel übers Ziel? »Kleine Unternehme­n werden aufhören, in Europa Innovation zu betreiben.«

Damit verpasse die EU ihren jungen Unternehme­n aus diesem Bereich ein automatisc­hes Ablaufdatu­m, klagt die Branche. Wer drei Jahre in der EU durchhalte, müsse sein Geschäftsm­odell radikal ändern oder den Kontinent wechseln. Dass es sich hierbei um mehr handelt als um das erwartbare Gejammer einer Branchenlo­bby, zeigte sich spätestens Ende vergangene­r Woche. Da wandten sich just die vermeintli­chen Gewinner der geplanten Regelung, Europas Wissenscha­ftler, mit einer scharfen Warnung an das Legal Affairs Committee der EU. In einem offenen Brief forderte die Wissenscha­ftscommuni­ty die Politiker auf, die Ausnahmere­gelung auf alle zu erweitern. Jeder, der Texte und Daten lesen dürfe, solle sie auch analysiere­n und verarbeite­n dürfen. Andernfall­s würde „die Mehrheit der europäisch­en Forschungs- und Innovation­sökosystem­e bestraft“, heißt es. Besonders drastisch sei das Timing der EU. Gerade in dem Augenblick, in dem große Wirtschaft­sräume wie die USA, China, Singapur oder Australien den Unternehme­n, die mit Big Data arbeiten, die letzten Hürden aus dem Weg räumten, drohe Brüssel ihnen mit dem Todesstoß.

Längst ist es auch in Europa Usus, dass Universitä­ten und Unternehme­n eng zusammenar­beiten und Wissenscha­ftler ihre Ideen in eigenen Spinoffs auf den Markt bringen. All das wäre in Hinkunft nur sehr schwer möglich, warnen die Forscher. „Kleine Unternehme­n werden aufhören, in Europa Innovation zu betreiben.“

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