Die große Freiheit ist vorbei
Die EU feilt an einer Copyright-Reform und nimmt dafür womöglich große Kollateralschäden in Kauf. Forscher warnen vor einem Exodus der Start-ups und einem Ende der Innovation.
Vor zehn Jahren war das Wehklagen der Musik- und Filmindustrie nicht zu überhören. Illegale Raubkopien im Netz kosteten den Plattenlabels allein auf dem amerikanischen Markt jährlich rund 20 Milliarden US-Dollar, hieß es damals. Und in Europa sehe die Lage nicht anders aus.
Alles Unsinn, behauptet nun eine Studie, die seit zwei Jahren unveröffentlicht in den Schubladen der EUKommission ruht. In Vorbereitung auf die anstehende Reform des Urheberrechts in Europa hat die Behörde die niederländische Beratungsfirma Ecorys ausgeschickt, um zu berechnen, wie sehr die illegalen Angebote im Netz den legalen Konsum von Filmen, Musik, Büchern und Videospielen verdrängen. Das Ergebnis: praktisch gar nicht. Einzig große Hollywood-Blockbuster werden deutlich seltener im Kino angesehen, wenn sie vorher schon illegal im Netz zu haben sind. Die Musikindustrie hingegen könne den Rückgang bei Albenverkäufen dadurch ausgleichen, dass Downloader deutlich öfter in Livekonzerte gehen. Für sie sei die Onlinepiraterie ein Nullsummenspiel. Und in der Videospielbranche stärkten die illegalen Downloads sogar das Geschäft, heißt es in der EU-Studie.
Aufgestöbert hat das 300-SeitenPapier die Europaabgeordnete Julia Reda (Grüne/Piraten). Die Kommission dürfte mit dem Ergebnis nicht unbedingt zufrieden gewesen sein, mutmaßt sie. In jedem Fall kommt die Veröffentlichung für Brüssel zu einem sehr ungünstigen Zeitpunkt. Die Kommission feilt seit Langem an schärferen Regeln für Urheberrechte im Internet. Schon am 10. Oktober soll das Legal Affairs Committee erstmals über die Copyright-Reform abstimmen.
Dass Europa neue Regeln braucht, steht außer Frage. Mit den 16 Jahre alten Gesetzen lassen sich IT-Giganten wie Google und Co. heute nicht mehr einfangen. Die Copyright-Reform soll kleinen Rechteinhabern bei der Durchsetzung ihrer Rechte gegen große Plattformen wie YouTube helfen. Und das geplante Ende des Geoblockings wird all jene freuen, die heute neidisch auf das Netflix-Angebot in anderen EULändern blicken. Doch die großen Streitpunkte liegen ganz woanders. Unternehmen mit Ablaufdatum. Heikel ist etwa Artikel 13, in dem die EU automatisierte Inhaltsfilter vorschreibt. Betreiber von Websites müssten demnach technische Filter einbauen, die vorab prüfen, ob Nutzer Inhalte hochladen, die urheberrechtlich geschützt sind. Derzeit reicht es, wenn der Rechteinhaber den Betreiber auf einen Verstoß aufmerksam macht – und dieser den Inhalt dann löscht.
Während manche aus der Kreativszene diesen „ersten Schritt zum Ende der großen Freifahrt für Tech-Giganten“feiern, warnen andere, dass die EU das Internet, wie wir es kennen, vernichten könnte. Der Firefox-Entwickler Mozilla wettert gegen den „dysfunktionalen Vorschlag“, der etwa Wikipedia zwingen könnte, jede kleinste Änderung der Nutzer zu prüfen – was das gesamte System des selbst verwalteten Online-Lexikons ad absurdum führen würde. Die EU ziele zwar gegen Google, drohe aber, die Falschen zu treffen, warnt Julia Reda regelmäßig. „Die Reform macht die Großen nur stärker“, bekräftigt auch Martin Senftleben, Professor für Geistiges Eigentum an der Uni Amsterdam. Auf einer gemeinsamen Veranstaltung mit der Europaabgeordneten warnte er vor großen Kollateralschäden, sollte die EU die Reform wie geplant umsetzen.
Konkret geht es um jenen Passus, mit dem Brüssel das Sammeln und Analysieren frei zugänglicher Texte und Daten aus dem Internet nur noch Wissenschaftlern ohne Einschränkungen erlauben will. Start-ups, die sich etwa mit den Zukunftsthemen künstlicher Intelligenz oder Big Data beschäftigen, hätten hingegen nur drei Jahre lang die Chance, die öffentlichen Daten kommerziell zu nutzen. Danach müssten sie die Zustimmung jedes einzelnen Rechteinhabers einholen.
Dass Europa neue Regeln braucht, scheint klar. Doch schießt Brüssel übers Ziel? »Kleine Unternehmen werden aufhören, in Europa Innovation zu betreiben.«
Damit verpasse die EU ihren jungen Unternehmen aus diesem Bereich ein automatisches Ablaufdatum, klagt die Branche. Wer drei Jahre in der EU durchhalte, müsse sein Geschäftsmodell radikal ändern oder den Kontinent wechseln. Dass es sich hierbei um mehr handelt als um das erwartbare Gejammer einer Branchenlobby, zeigte sich spätestens Ende vergangener Woche. Da wandten sich just die vermeintlichen Gewinner der geplanten Regelung, Europas Wissenschaftler, mit einer scharfen Warnung an das Legal Affairs Committee der EU. In einem offenen Brief forderte die Wissenschaftscommunity die Politiker auf, die Ausnahmeregelung auf alle zu erweitern. Jeder, der Texte und Daten lesen dürfe, solle sie auch analysieren und verarbeiten dürfen. Andernfalls würde „die Mehrheit der europäischen Forschungs- und Innovationsökosysteme bestraft“, heißt es. Besonders drastisch sei das Timing der EU. Gerade in dem Augenblick, in dem große Wirtschaftsräume wie die USA, China, Singapur oder Australien den Unternehmen, die mit Big Data arbeiten, die letzten Hürden aus dem Weg räumten, drohe Brüssel ihnen mit dem Todesstoß.
Längst ist es auch in Europa Usus, dass Universitäten und Unternehmen eng zusammenarbeiten und Wissenschaftler ihre Ideen in eigenen Spinoffs auf den Markt bringen. All das wäre in Hinkunft nur sehr schwer möglich, warnen die Forscher. „Kleine Unternehmen werden aufhören, in Europa Innovation zu betreiben.“