»Spitzensteuer von 60 Prozent bringt keinen Menschen um«
Wie gut sind die Steuer- und Wirtschaftsprogramme der Parteien? Eine Beurteilung von – und teilweise ein Streitgespräch zwischen – dem Wirtschaftsexperten Schulmeister und dem IHS-Chef Kocher.
Es wurden gerade die neuen Wirtschaftsprognosen präsentiert. Österreich wächst demnach heuer zwischen 2,6 und 2,8 Prozent. Wegen oder trotz der Arbeit dieser Bundesregierung? Martin Kocher: Einen Aufschwung wegen einer Regierungspolitik gibt es nicht sehr häufig. Eine Regierung kann einen Wirtschaftsaufschwung unterstützen, sie kann Impulse setzen, aber sie kann nicht einen wirtschaftlichen Aufschwung auslösen. Es gab aber durchaus Maßnahmen, die dazu beigetragen haben, das Klima zu verbessern. Die Steuerreform hat beispielsweise gute Impulse gesetzt. Stephan Schulmeister: Wir haben einen Aufschwung aus einer nahezu depressiven Phase heraus. Dass die Regierung verschiedene Maßnahmen gesetzt hat – etwa gegen die Arbeitslosigkeit der über 50-Jährigen – hat sich schon positiv ausgewirkt. Wenn Sie sich die verschiedenen Wahlprogramme der Parteien anschauen, gibt es einen Punkt, der Sie überrascht hat, von dem Sie sagen: Endlich fordert das jemand? Schulmeister: Überrascht hat mich schon etwas, aber nicht im positiven Sinn: nämlich die Forderung nach einer Streichung der Steuerpflicht für nicht entnommene Gewinne bei Kapitalgesellschaften (eine ÖVP-Forderung, Anm.). Das gibt es bisher in der EU nur in Estland. Es wird den Staat wesentlich mehr kosten als die eine Milliarde, die die ÖVP veranschlagt hat. Ich halte das für ein völlig falsches Signal, weil man die Unternehmen dazu verlockt, mit dem Geld Finanzinvestitionen zu tätigen, nicht reale Investitionen. Kocher: Das wurde ja teilweise schon wieder relativiert, etwa mit Ausnahmen bei Finanzinvestitionen. Mich hat insgesamt bei den Forderungen wenig überrascht. Es gibt in allen Program- men sinnvolle Ansätze, es gibt No-nanet-Aussagen zum wirtschaftlichen Bereich, und es gibt auch in fast allen Bereichen Teile, die ich als Voodoo Economics bezeichnen würde. Und worauf wurde vergessen? Schulmeister: Auf die Ungleichheit. Sie führt langfristig zu einer Unterminierung des gesellschaftlichen Zusammenhalts. Es gibt derzeit eine Einkommensschicht ganz unten, die keine Perspektive hat. Es gibt immer mehr Menschen, die Angst haben und sich Sorgen machen, was kommt – nicht nur unten, sondern auch in der Mittelschicht. Es gibt steigende Armut und prekäre Beschäftigung, gleichzeitig haben wir oben eine unglaubliche Konzentration der Vermögen. Dieses Problem wird nicht wahrgenommen, auch nicht von denen, die auf Plakaten Fairness und neue Gerechtigkeit fordern. Kocher: Aufgrund der empirischen Daten sehen wir in Österreich in den vergangenen Jahren keinen Anstieg der Ungleichheit. Es gibt aber tatsächlich eine Gruppe – eine nicht sehr große –, die von der Digitalisierung, vom Fortschritt abgehängt wird. Das sind niedrig qualifizierte Menschen, die Schwierigkeiten haben, mit der Entwicklung zurechtzukommen. Das ist ein Problempotenzial, bei dem sich die Politik überlegen muss, wie sie damit umgeht. Ein anderer Punkt: Bei der Verwaltung des Staates gibt es viele Baustellen – Föderalismus, Gesundheitsbereich, Bildung. Wenn der Staat effizienter arbeiten würde, könnte man in diesen Bereichen viel verändern. Das will er offensichtlich. Alle Parteien versprechen massive Steuersenkungen – von fünf bis 14 Milliarden Euro –, die zu einem guten Teil durch Einsparungen finanziert werden sollen. Kocher: Alle Parteien sind in dem Bereich etwas zu optimistisch – so wie jene, die neue Steuern einführen wollen, etwas zu optimistisch sind, was die Höhe der Einnahmen betrifft. Schulmeister: Es will doch ohnehin fast niemand neue Steuern einführen. Auch die Sozialdemokratie ist auf einem neoliberalen Trip, nur eben viel sanfter. Was ist mit den Erbschafts- und Schenkungssteuern? Kocher: . . . oder der Wertschöpfungsabgabe? Schulmeister: Das sind kleine Pünktchen. Aber die SPÖ möchte genauso die Staatsquote senken wie die anderen Parteien. Und das ist der Weg, der das Sozialmodell demolieren wird. Denn wenn auch die Sozialdemokraten nicht mehr für Sozialstaatlichkeit eintreten, dann wird das zu einem alleinigen Anliegen der Rechten. Das haben wir alles schon einmal gehabt, dass nur die Rechten soziale Wärme versprechen. Kocher: Wir gehen aber von einem ganz anderen Niveau des Sozialbereichs aus. Wir haben in den vergangenen 20, 30 Jahren ein massives Ansteigen der Sozialausgaben gesehen. Schulmeister: Aber was sind die Gründe? In Spanien beispielsweise ist die Sozialquote gestiegen, aber das Elend der Menschen auch. Wenn ich die Arbeitslosengelder kürze, aber die Arbeitslosigkeit sich verdreifacht, werde ich unterm Strich mehr Arbeitslosengeld ausschütten – weil es eben mehr Arbeitslose gibt. Das Dumme an dem System ist, dass man das Pferd von hinten aufzäumt. Wie ein Buchhalter schaut man, wo die Ausgaben besonders stark gestiegen sind, und das kürzt man dann, ohne vorher nachzudenken, welche systemischen Gründe dahinterstecken. Weil die Ungleichheit angesprochen wurde: Sind die Forderungen nach einer Millionärssteuer und einer Erbschafts- und Schenkungssteuer in Österreich gerechtfertigt? Kocher: Ich verdamme eine Erbschaftssteuer nicht grundsätzlich, aber die Diskussion in Österreich ist fehlgeleitet. Es ist letztendlich eine Neiddebatte. Man müsste es mit einem Gesamtkonzept diskutieren: Es gibt eine Senkung anderer Steuern, dafür gibt es eine