Eingesponnen in sich
Woher Autismus rührt, die defizitäre Aufnahme sozialen Kontakts, bleibt rätselhaft. Die jüngste Hypothese setzt auf eine Fehlbalance im Gehirn.
Wenn er der Vater wäre, würde er „dieses Kind an die Moldau bringen und ertränken“. Denn es sei nichts als „eine Masse Fleisch“, „seelenlos“und „vom Teufel besessen“, und es tue nichts als „essen wie vier Bauern und Drescher“und „schreien, wenn man es berührt“. So erinnerte sich Martin Luther in einem Tischgespräch an den Rat, den er dem Vater des Kindes, dem Prinzen von Anhalt, erteilt hatte.
Ausgegraben hat die Episode Leo Kanner, der 1894 in Galizien in der k. u. k. Monarchie geboren wurde, Medizin studierte und in den 1920ern in die USA übersiedelte. Er wurde Kinderpsychiater und publizierte anno 1943 Fallbeispiele von Verhaltensstörungen, die er den von Luther beschriebenen ähneln sah, er nannte sie „autistic“und vermutete vor allem die der Umwelt bzw. Erziehung dahinter: Diese Kinder hätten gefühlskalte Eltern – vor allem „Kühlschrankmütter“–, die mit ihnen umgingen wie mit Maschinen.
Das war grundiert von der in den USA grassierenden popularisierten Psychoanalyse, es half den Kindern nicht und zerstörte Familien, Kanner hatte Einfluss. Erst in den 60er-Jahren drehte sich der Wind, Eltern schlossen sich zu Selbsthilfegruppen zusammen, Ärzte entwickelten Diagnosekriterien. Im Dunkeln aber blieb, woher das in sich selbst eingesponnene Verhalten kommt, das kaum soziale Bezüge aufnimmt – schon keinen Blickkontakt der Babys mit den Müttern – und sich oft in repetitiven Bewegungen erschöpft. Häufig ist auch das Vermögen des Sprechens eingeschränkt und das des Denkens, es gibt aber auch Spezialbegabungen, verkitscht wurde eine in „Rain Man“. Das Leiden hat viele Formen – man fasst sie unter „Autismus-Spektrum-Störungen“zusammen –, mildere sind nach Hans Asperger benannt.
Der war auch Österreicher, Kinderarzt in Wien, er hatte das Phänomen noch vor Kanner bemerkt und auch „Autismus“genannt, dachte aber in eine andere Richtung: Es handle sich um „eine extreme Variante der männli- chen Intelligenz“. Das publizierte Asperger 1942, mitten im Krieg und auf Deutsch, in den angelsächsischen Ländern kam es erst in den 70er-Jahren an. Da war man auf der Suche nach Genen, man fand Kandidaten, viele, eher zu viele, und keine zentralen. Das ist heute nicht anders, und das macht ein Unternehmen fragwürdig, mit dem gerade Gene Robinson (University of Illinois) evolutionstheoretisches Licht in die abgeschotteten Gehirne bringen wollte: Er geht aus von der Hypothese E. O. Wilsons, derzufolge alle, die sozial leben, sich ähnlich entwickelt haben, nicht nur Menschen, auch Bienen etwa. Auch bei denen gibt es sozial Abstinente, die sich weder um die Verteidigung des Volks kümmern noch um das Wohl der Königin. Deren Gene hat Robinson mit denen anderer Bienen verglichen, er fand über tausend (!) Abweichungen, die sich mit manchen überlappen, die bei Menschen unter Verdacht stehen (Pnas 31. 7.). Impfstoff? Das ist höchst spekulativ, und geholfen ist damit niemandem, nicht der Evolutionsbiologie, schon gar nicht Autisten. Deren Zahl ist seit den 80er-Jahren stark gestiegen – zum Teil durch erhöhte Aufmerksamkeit und verfeinerte Diagnosen –, 1999 schien der Schuldige gefunden, ein Impfstoff. Das publizierte Andrew Wakefield im höchst angesehenen Journal Lancet (351, S. 637), es war einer der ruchlosesten Betrugsfälle der Wissenschaft: Wakefield war gekauft, von Anwälten von Selbsthilfegruppen, die den Impfstoffhersteller klagen wollten. Wakefield ist längst entlarvt, aber an seinen Teufel glauben heute noch viele Eltern wie einst Luther an den seinen: Sie lassen ihre Kinder nicht impfen, das hat die Masern wieder zum Problem gemacht.
Von Impfstoffen kommt Autismus also nicht. Woher dann? Man weiß es nicht, man weiß nur, dass autistische Gehirne just dort größer und/oder aktiver sind, wo die höheren Fähigkeiten sitzen, im präfrontalen Kortex. Das heißt nicht, dass dort zu viel wächst, umgekehrt: Es wird zu wenig abgebaut: In der 10. bis 20. Schwangerschaftswoche legen Gehirne im Überschuss zu, später wird viel wieder weggeschafft. Bei Autisten nicht. Das hat vermutlich zur Folge, dass die Kommunikation zwischen Gehirnzellen sich nicht auf (relativ) wenige breite Bahnen konzentriert, sondern in endlos vielen dünnen versandet.
So sieht das etwa Cornelius Gross (Moterondo), er vermutet Mikroglia dahinter, das sind Immunzellen, die das Gehirn bzw. die Verbindungen zwischen seinen Zellen zurechtstutzen – „synaptic pruning“– oder, bei Autismus, eben nicht (Nature Neuroscience 17, S. 400). Einen ganz anderen Hintergrund vermutet Simon Baron-Cohen (Cambridge), der in den 90er-Jahren Asperger wieder entdeckte und bei Autisten einen „extreme male brain“sieht – der die Welt in Regeln bringt und sie systematisiert, während das „weibliche Denken“sich eher in andere hinein versetzt – und das auf zu viel Testosteron im Uterus zurückführt. Dafür mag sprechen, dass Autismus bei Männern viel häufiger ist, aber irgendeine Therapie lässt sich daraus nicht gewinnen.
Der eine Entdecker sah die Eltern dahinter, der andere ein extrem männliches Gehirn. Die Gehirne sind just dort größer oder aktiver, wo die höheren Fähigkeiten sitzen.
Das wird wohl auch bei der jüngsten Wendung so sein: Karl Deisseroth (Stanford) vermutete seit Längerem, dass nicht die Zahl der Hirnzellen das Problem ist, sondern ihre Aktivität: Es gibt anregende und inhibierende Zellen, und deren Balance sei bei Autisten außer Kontrolle. An Mäusemodellen hat Deisseroth das nun zeigen und sogar beheben können, mit optogenetischen Mitteln, Steuerung von Genaktivitäten mit Licht ist (Science Translational Medicine 2. 8.).
Aber in Menschenhirne kann man nicht leuchten, und Mäuse sind keine Menschen. Zudem kam nach Versuchen mit ihnen gerade eine Mahnung zur Vorsicht von Stephane´ Baudouin (Cardiff ): Auch er hat mit Mäusen experimentiert, die Autismus simulieren sollen. Das haben sie getan, aber sie haben auch das Verhalten anderer, ganz normaler Mäuse, mit denen sie zusammen kamen, so geändert, das die keinen sozialen Kontakt mit ihnen aufnahmen und sie in noch stärkere Isolation trieben (eNeuro 3. 8.).
Das muss bei Menschen natürlich nicht so sein: Der von Luther beratene Vater wies das Ansinnen so entsetzt zurück, dass der Reformator sich besann und versprach, für das Kind zu beten.