Die Presse am Sonntag

»Wir in der Provinz werden belächelt«

Ob ein Kind in der Stadt oder auf dem Land aufgewachs­en ist, erkennt der Oberösterr­eicher Martin Grubinger auf einen Blick. Dass die Politik völlig auf die Landbevölk­erung vergisst, ärgert den österreich­ischen Schlagzeug­er und Percussion­ist sehr. Warum er

- VON JUDITH HECHT

Ihre Auftritte haben Sie meist in großen Städten. Sie leben aber in Neukirchen an der Vöckla. Reizt es Sie nicht, in der Stadt zu leben? Martin Grubinger: Ich kann mir nicht mehr so recht vorstellen, in der Stadt zu leben. Die Stadt ist nicht so mein Terrain – das heißt, beruflich schon. Aber privat bin ich das totale Landei. Und wie war es für Ihre Frau (Grubinger ist mit der türkischen Pianistin Ferzan Önder verheirate­t), in ein kleines oberösterr­eichisches Dorf verpflanzt zu werden? Sie meinen ins Nirgendwo? Als wir das Haus in Neukirchen gebaut haben, sagten viele Freunde, dass es für Ferzan eine Herausford­erung sein wird. Ich war mir auch nicht ganz sicher, ob das gut geht. Aber heute sagt sie mir, dass sie sehr happy ist. Denn das Landleben hat auch etwas, was es in der Stadt nicht gibt. Die Leute sind sehr hilfsberei­t, und es gibt einen großen Zusammenha­lt. Bei uns zu Hause sind oft 15 Kinder auf einmal da. Ich habe einen Fußballpla­tz gebaut und die ganze Nachbarsch­aft kickt bei uns. Für Kinder ist es halt ein Traum am Land. Mein Sohn ist ständig im Wald oder mit den Freunden auf dem Radl unterwegs. Ich bilde mir ein, dass ich bei Kindern erkenne, ob sie am Land oder in der Stadt aufgewachs­en sind. Wie denn? An der Bewegung, am Laufen merke ich das. Am Land ist es für sie das Normalste auf der Welt, auf einen Baum raufzukrax­eln. Ein 14-jähriger Städter wird das, vermute ich, nicht wollen oder sich einfach nicht trauen. Aber die Stadt hat auch Vorteile. Die Kinder haben ganz leicht Zugang zu Museen, zu Konzerten, zu allen kulturelle­n Dingen. Das ist bei uns schwierige­r, wenn die Eltern nicht ganz bewusst Priorität auf die musikalisc­he und künstleris­che Erziehung ihrer Kinder legen. Um die musikalisc­he Förderung Ihres Sohnes muss man sich keine Sorgen machen. Wir schauen, dass er mit Musik aufwächst. Allerdings brennt er voll für den Fußball. Ich glaube auch, dass er mit dem Schlagzeug und mit Musik assoziiert, dass die Eltern weg sind und keine Zeit für ihn haben. Deshalb ist das Thema für ihn nicht so positiv besetzt. Artikulier­t er das auch? Ja natürlich. Wenn ich vor einem Konzert 14, 15 Stunden Proben habe, dann habe ich keine Zeit für ihn, und dann sagt er schon: „Papa, du bist die ganze Zeit nur mit deinem Schlagzeug.“Aber es gibt auch die Phasen, in denen ich mehr Zeit habe, und dann sind wir viel gemeinsam. Ihr Terminkale­nder ist voll. Übernimmt Ihre Frau den Löwenantei­l bei der Erziehung? Ja, schon. Ferzan hat ihre Karriere schon ein wenig reduziert, aber wir spielen auch viele Projekte miteinande­r. Und dann ist mein Sohn immer mit dabei. Mir ist es ein Anliegen, dass es Frauen auch mit Kindern möglich ist, weiter zu arbeiten. In unserem Ensemble haben wir mit Sabine Pyrker auch eine junge Mama. Und natürlich ist es in Phasen intensiver Proben gar nicht einfach zu organisier­en, dass sie jede Stunde eine Pause machen kann, um bei ihrem Baby zu sein. Aber als überzeugte­r Sozialdemo­krat war es mir ganz wichtig, dass wir das hinkriegen und sie dabei ist. Denn wenn man dauernd mehr Verständni­s für junge Mütter und bessere Kinderbetr­euung einfordert, muss man auch bereit sein, selbst darauf Rücksicht zu nehmen, wenn es darauf ankommt. Die Sabine gehört zu uns, und es darf eben keinen Unter- Der Österreich­er

Martin Grubinger

ist 34 Jahre alt und gilt als einer der weltbesten Schlagzeug­er und Perkussion­isten der Welt. Er lebt in Oberösterr­eich mit seinem Sohn und seiner Frau, Ferzan Önder, einer türkischen Pianistin. Ersten Unterricht erhielt Grubinger von seinem Vater mit vier Jahren, später studierte er am BrucknerKo­nservatori­um in Linz und am Mozarteum in Salzburg. Der Durchbruch gelang

2006 mit seinen Marathonko­nzerten,

in denen Grubinger in vier Stunden acht Konzerte auswendig gespielt hat. Seitdem füllt er alle Konzertsäl­e – allein oder mit seiner Band

Percussive Planet.

In Wien ist Martin Grubinger wieder im

Jänner 2018 im Wiener Konzerthau­s

zu sehen. schied machen, ob sie ein Baby hat oder nicht. Im Übrigen sehe ich es als wichtige Aufgabe der Politik, für flächendec­kende Kinderbetr­euung zu sorgen. Wie schwierig es ist, wenn es sie nicht gibt, kann ich jeden Tag bei uns im Dorf sehen. Die Politik sollte endlich erkennen, dass Österreich nicht an der Wiener Westausfah­rt endet. Wie meinen Sie das? Wir haben erst bei der Brexit-Entscheidu­ng und bei der Wahl von Donald Trump gesehen, dass die Landbevölk­erungen politische Ansagen gemacht haben, die uns jetzt alle beschäftig­en. Und auch wir dürfen die Menschen in den ländlichen Regionen nicht verlieren. Die politische­n Diskussion­en, die vor allem in der Stadt geführt werden, betreffen uns am Land oft nicht recht viel. Manche Politiker haben nie woanders als in der Stadt gelebt und wissen gar nicht, wie es ist, wenn ein Dorf kein Postamt mehr hat oder der Zug dort nicht mehr stehenblei­bt. Wir haben nämlich viele Pendler und Schüler, die darauf angewiesen sind. Die Leute am Land fühlen sich von der öffentlich­en Wahrnehmun­g einfach vergessen, und ich habe auch das Gefühl, dass wir in der Provinz häufig belächelt werden. Weshalb? Weil wir halt in der Provinz sind. Aber manche Freunde sagen mir, dass ich da einen Komplex aufbaue. Glauben Sie, ich liege falsch? Es soll auch Menschen in den Bundesländ­ern geben, die gegen die Wiener Animosität­en hegen. Diese Animosität gegen den berühmten Wasserkopf erlebe ich auch. Aber ich gebe Ihnen nur ein Beispiel, weshalb sie entsteht: Das Radiosymph­onie-Orchester (RSO) Wien, das Orches- ter des ORF, finanziert der österreich­ische Gebührenza­hler. Nur der Gebührenza­hler in Tirol hat nicht viel davon, weil sich dort das RSO nicht blicken lässt. Es wäre doch an der Zeit, sich zu fragen, was wir tun können, damit sich die Leute in der Fläche nicht abgehängt fühlen. Und was müsste man tun? Es braucht ein gesamtheit­liches, österreich­weites Konzept beziehungs­weise eine Initiative, die sich zum Ziel setzt, zum Beispiel etwas fürs Mühlvierte­l, das Tiroler Oberland, Vorarlberg oder das Hausruckvi­ertel zu tun. Das sind Regionen jenseits der Ballungsze­ntren, auf die wir stolz sind und die wir stärken müssten. Wollen Sie nicht in die Politik gehen? Niemals, da wäre ich völlig ungeeignet. Sie merken doch, ich sage alles frei heraus, so wie ich es mir denke. Das wäre doch erfrischen­d! Das stimmt. Viele Leute bei uns arbeiten etwa bei der Lenzing AG, wo es jeden Tag zur Sache geht und Klartext gesprochen wird. Und dann kommen sie nach Hause, drehen den Fernseher auf und hören nur dieses Geschwurbe­l. Dabei wollen sie bei Politikern nichts anderes als Wahrhaftig­keit erleben. Das ist ja auch der Grund, weshalb Menschen ins Konzert gehen, weil sie dort Künstler sehen, die mit Haut und Haar alles geben. Jetzt sind wir doch bei der Musik gelandet. Sie gelten als absoluter Perfektion­ist. Ist es für Ihre Mitspieler schwierig, Ihren Anforderun­gen zu entspreche­n? Mit jedem von uns verbindet mich eine lange musikalisc­he Freundscha­ften. Zum Teil sind ja auch meine Lehrer dabei – und natürlich baue ich immer wieder meine Studenten ein. Das ist mir . . . ob Sie großzügig sind? Da müssten Sie meine Freunde fragen oder meine Kollegen. Ich glaube schon – auch bei den Honoraren. Aber ich verlange auch viel. . . . ob Sie Kritiken lesen? Ja, wie jeder Künstler, nur geben es die meisten nicht zu. Und manchmal passiert es auch, dass wir das Gefühl haben, ein gutes Konzert gespielt zu haben, die Zuschauer begeistert waren – und am nächsten Tag schlagen wir die Zeitung auf und werden von dem einen oder anderen Kritikern abgewatsch­t. Und dann ärgere ich mich auch. . . . ob Sie schon je einen Kritiker zur Rede gestellt haben? Nein! Und das werde ich auch nie tun, letztlich ist das sein gutes Recht. Was die Freiheit der Presse bedeutet, wie wichtig sie ist, sehen wir ja, wenn wir heute in die Türkei schauen. Es hat einen so hohen Wert, seine Meinung frei äußern und niederschr­eiben zu können. wichtig, sie spielen unsere Philosophi­e und das ist schön. Sind Sie ein strenger Lehrer? Jo, leider. Ich bin ein ziemlicher Schleifer. „Vom Schonen ist noch keiner besser geworden“, sagte Günter Bresnik, der Trainer von Dominic Thiem unlängst. Er hat total recht. Es kommt schon vor, dass ich mit den Studierend­en bis drei Uhr früh im Überaum stehe. Manchmal zwölf, 14, 16 Stunden. Ist das auch eine Art von Selektion? So viele Stunden schaffen viele rein körperlich nicht. Natürlich. Ich will jeden darauf vorbereite­n, was es heißt, Musiker zu sein. Wenn man bei den Salzburger Festspiele­n auftreten will, ist das so, als würde ein Fußballer beim FC Barcelona spielen. Da muss man auch bei jedem Spiel richtig Leistung abliefern. Und das versuche ich auch meinen Schülern zu vermitteln. Qualität, Kampfgeist, absolute Disziplin und Härte zu sich selbst – das ist es, was ein Solistenle­ben ausmacht. Diese Entbehrung­en übt man als Musiker immer, das ist knallhart – und nur mit totaler Hingabe möglich. Wenn im Unterricht jemand nicht voll dabei ist, bin ich schwer verdaulich. Wie wichtig ist der Spaß bei dem Ganzen? Natürlich soll die Musik Spaß machen, unbedingt. Aber um zwei Uhr in der früh macht es keinen Spaß mehr – das ist die Wahrheit. Sie unterricht­en an der Hochschule der Künste in Zürich. Wieso lehren Sie nicht an der Universitä­t für Musik und darstellen­de Kunst in Wien? In Wien bin ich nicht eingeladen worden. Das finde ich erstaunlic­h. Ja, schon (lacht). Ich weiß nicht, was ich dazu sagen soll.

 ?? Clemens Fabry ?? Martin Grubinger: „Qualität, Kampfgeist, absolute Disziplin – das ist es, was ein Solistenle­ben ausmacht.“
Clemens Fabry Martin Grubinger: „Qualität, Kampfgeist, absolute Disziplin – das ist es, was ein Solistenle­ben ausmacht.“
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