Wir sind zu alt für den Brutkasten
Chinas Industrie wurde groß, weil ihr Konkurrenz von außen erspart blieb, heißt es. Nun giert auch der Westen nach Abschottung. Doch alte Volkswirtschaften sind schnell kaputtgeschützt.
China hat, was Europa fehlt: eine echte Alternative zu den amerikanischen Tech-Giganten im Netz. Amazon, Google und Facebook konnten ihre weltweite Dominanz nicht auf die Volksrepublik ausweiten, weil China ihnen den Zutritt (auch aus politischen Gründen) verwehrt hatte. Hier machen Eigenbau-Klone wie der Onlinehändler Alibaba, der Suchmaschinenbetreiber Baidu oder der Internet-Konglomerat Tencent das Milliardengeschäft. Ironie am Rande: Das Rezept für deren Aufstieg hat sich Peking bei einem oft verkannten, deutschen Ökonomen geborgt, der im Westen erst langsam wiederentdeckt wird.
Friedrich List, geboren 1789, war Nationalökonom und galt zu Lebzeiten als leidenschaftlicher Kritiker des Kosmopoliten Adam Smith. Er hielt dessen Idee des absoluten Freihandels zwar für ehrenhaft, aber auch für naiv. Jede Ökonomie sei letztlich national, so sein Argument. Und jede Regierung werde das tun, was am besten für das eigene Land sei. Schutzzölle seien daher manchmal das einzige Mittel, wenn rückständige Volkswirtschaften den Aufholprozess schaffen wollen. Erst wenn die eigenen Unternehmen einen bestimmten Reifegrad erreicht haben, sollten sie auf den Weltmarkt entlassen werden. Missverstandener Schutzheiliger. Viele Jahrzehnte, bevor China seine Internetwirtschaft vor der übermächtigen USKonkurrenz schützen sollte, folgten die USA und Deutschland seinem Rat. Beide schufen im 19. Jahrhundert Schutzzölle, um ihre jungen Industrien vor Billigimporten aus dem überlegenen Großbritannien zu schützen. Nach dem Zweiten Weltkrieg fanden Lists Ideen in Taiwan, Südkorea, Singapur und zuletzt auch in China und Vietnam großen Anklang.
Lange Zeit in Vergessenheit geraten, erleben Friedrich Lists Thesen auch im Westen eine Renaissance. Die Formel, dass mehr Freihandel mehr Wohlstand bringt, wird in den Industriestaaten infrage gestellt, die Gier nach Protektionismus nimmt zu. Und mittendrin steht ein falsch interpretierter Friedrich List, der sogar als Schutzheiliger für die Isolationsfantasien von US-Präsident Donald Trump herhalten muss.
Doch die Prediger des neuen Protektionismus im Westen kapern seinen Namen zu Unrecht. Denn List war kein Feind des Freihandels. Im Gegenteil: Er forderte vehement den Abbau von Handelsschranken und den Ausbau eines möglichst guten Verkehrsnetzes im Inland, um vom freien Warenverkehr profitieren zu können. Nur für die besonders schutzbedürftigen Industrien in Entwicklungsländern sah er eine Art „Erziehungszoll“vor, der es den jungen Branchen ermöglichen sollte, auf eigenen Beinen zu stehen. Für Trumps Idee eine alte, marode Schwerindustrie in einem saturierten Industrieland zu schützen, hätte List wenig Verständnis.
Und selbst jene Staaten, die wirklich noch aufholen müssen, können nicht sicher sein, ob es für sie wirklich eine gesunde Variante des Protektionismus gibt. Bestes Beispiel ist Brasilien. In den 1970er- und 1980er-Jahren hat das Land versucht, brasilianische Hersteller von Mikroprozessoren vor der starken Konkurrenz aus dem Ausland zu schützen. Computer in Brasilien mussten weitgehend aus inländischen Teilen gebaut werden. Der Import wurde stark verteuert, Firmen und Behörden waren angewiesen, nur brasilianische Computer zu verwenden. Das Ziel war, die eigene Industrie so stark zu machen, dass sie international mithalten konnte.
Doch so weit sollte es nie kommen. Die Branche blieb mangels Konkurrenz wenig innovativ und weitgehend ineffizient, während die Sucht nach der schützenden Hand des Staates zunahm. Bald schon war politisches Lobbying für Unternehmen weit einträglicher als Forschung und Entwicklung. Die Folge: Die brasilianische Computertechnolo- gie hinkte dem Weltmarkt um drei bis fünf Jahre hintennach und war fast doppelt so teuer. Das war nicht nur ein Desaster für die Branche, sondern für die gesamte Volkswirtschaft, die von den langsamen und teuren Geräte nicht loskam. Als die Regelung 1990 gelockert wurde, rüsteten die Unternehmen schnell mit Importware nach. Die brasilianischen Produzenten mussten schließen. Selektive Öffnung. Aber warum funktioniert es in China und Asien so viel besser? Ein Erklärungsansatz ist: Es funktioniert gar nicht besser. Vor allem die Staatsfirmen stehen schlechter da, als es ihre Bilanzen und Bewertungen an Chinas staatlich kontrollierten Börsen vermuten lassen, meinen Kritiker. Doch das gilt nicht für Internetkonzerne wie Baidu, Alibaba und Tencent. In ihrer Branche haben Staatsfirmen kaum Bedeutung, und sie waren von Beginn an harter Konkurrenz aus dem Inland ausgesetzt. So wurde aus Huawei eines der innovativsten Unternehmen der Welt, Alibaba konnte einen der größten Börsengänge in New York hinlegen.
Lang vor China schützte auch Deutschland seine Industrie vor der britischen Übermacht. Brasilien wollte seine eigene Computerbranche abschotten – und scheiterte kolossal.
Vor allem aber hat sich Asien nie als ein Gegner des Freihandels verstanden. Nur das Timing der Öffnung erfolgte selektiv: Bevor Zölle abgebaut werden, darf ausländisches Kapital ins Land. Sonderwirtschaftszonen locken Investoren und versprechen Technologietransfer. Lateinamerika hat es mit dem Protektionismus ernster gemeint. Trotz der schlechten Erfahrung blieb Brasilien lange eines der protektionistischsten Länder der Welt. Heute klingt das anders: „Am Ende des Tages ist Protektionismus für niemanden gut“, weiß Finanzminister Henrique Meirelles. Für Brasilien ist diese Lektion noch relativ neu. Im Westen ist sie so alt, dass sie schon wieder in Vergessenheit gerät.