Wort der Woche
BEGRIFFE DER WISSENSCHAFT
Kulturen sind niemals statisch, sondern wandeln sich laufend. Das war auch schon in der Steinzeit so. Und sogar damals waren die Menschen ständig in Bewegung.
Die meisten, die sich regelmäßig über die Südeinfahrt nach Wien hineinstauen, haben wohl keine Ahnung, dass sie direkt am ältesten Dorf Österreichs vorbeifahren. In Brunn am Gebirge, Flur Wolfholz, wurden bei Notgrabungen die Überreste von 77 Gebäuden aus der Jungsteinzeit gefunden; weitere dürften sich noch nördlich davon befinden.
Gegründet wurde das Dorf um 5600 v. Chr., und zwar von Menschen, die aus dem Osten kamen und als neueste Errungenschaft die Landwirtschaft mitbrachten. Die Siedlung bestand rund 500 Jahre lang, und sie veränderte sich in dieser Zeit deutlich, wie der Archäologe Alexander Minnich am Donnerstag beim Jungforscherwettbewerb „neugier!wissen!schafft“im Naturhistorischen Museum Wien berichtete – die besten Vorträge und Poster wurden mit den diesjährigen Carl-von-SchreibersForschungspreisen ausgezeichnet.
Anhand der Spuren, etwa der Orientierung der Häuser oder der Anordnung und Tiefe der Pfostenlöcher, konnten Minnich und seine Kollegen rund um Peter Stadler drei Phasen unterscheiden: Zuerst gab es massive Holzbauten; 200 Jahre später zeigte sich eine Bauweise, die ein Obergeschoss ermöglichte; und nach weiteren 200 Jahren tauchten spezielle Getreidespeicher auf. Als Erklärung bietet Minnich an, dass die Menschen damals dazulernten und den Getreideanbau perfektionierten, wodurch die Ernten größer wurden und damit auch der Bedarf für Speicherplatz – zuerst in einem separaten Geschoss im Haus, dann in eigenen Gebäuden.
Dass sich Kulturen nicht nur ständig weiterentwickelten, sondern die Menschen auch stets in Bewegung waren, konnte Minnichs Kollegin Micheline Welte nachweisen: Sie hat anhand von mehr als 1000 ausgegrabenen Venus-Figuren gezeigt, dass im 5. Jahrtausend v. Chr. die diversen Typen von nackten Frauen zu unterschiedlichen Zeiten an verschiedenen Orten auftraten. Ihr Schluss daraus: Die Wanderung der frühen Ackerbauern geschah nicht, wie man lang dachte, in einem großen Strom, sondern in vielen kleinen Gruppen – und sie verlief nicht nur von Ost nach West, sondern auch nach Nord und Süd. Mit anderen Worten: Migration war immer schon ein dynamischer und komplexer Prozess.
Diese neuen Erkenntnisse demonstrieren sehr schön zwei Tatsachen: Erstens sind Kulturen niemals statisch, vielmehr sind Gesellschaften ständig in Bewegung. Und zweitens: Auch die altehrwürdige Wissenschaft der Archäologie ist äußerst vital. Der Autor leitete das Forschungsressort der „Presse“und ist Chefredakteur des „Universum Magazins“.