Dreiklänge, Dissonanzen
Wie die »Urgestalt des Weibes« zur Titelheldin der einzigen fürs Repertoire tauglichen Zwölfton-Oper der Musikgeschichte wurde.
Von mythologischer Kraft ist manche Figur in Frank Wedekinds „Lulu“-Tragödie; und mancher Satz, der gesprochen wird. Der wunderlichste von allen: „Wenn jemand nach mir fragt, ich sitze unten im Lokal“. Trefflicher hat sich seit Shakespeare gewiss keine Bühnengestalt mehr in einem einzigen Satz vollkommen charakterisiert.
Schigolch sagt das, als ihm keiner mehr zuhören kann, wie ihm ja nie jemand zugehört hat. Er war aufgetaucht als Clochard im bürgerlichen Speisesaal, wie verirrt aus einem andern Stück. Manche halten ihn für Lulus Vater, rätselhaft wurzellos wie sie. Im Dialog erfahren wir, dass dem wohl nicht so ist, dass es da eine gemeinsame graue Vorzeit geben muss, als die ewig kindliche Frau tatsächlich noch Kind war, wenngleich wohl ein recht frauliches. Schon damals hat bestimmt keiner – außer vielleicht Lulu? – jemals „nach ihm gefragt“. Und auch jetzt, am Ende des grausamen Spiels um Aufstieg und Fall der von allen begehrten „Urgestalt des Weibes“, ist nur gewiss, dass Schigolch nie und nimmer „unten im Lokal“zu finden wäre, würde denn je einer „nach ihm fragen“.
Hier wird Hintertreppenpoesie zur Poesie der Hintertreppe – Karl Kraus über »Lulu«.
Poesie der Hintertreppe. Mythologische Figuren hat Wedekind geschaffen, unmissverständliche Zeichen gesetzt, die nicht nur von den Zensoren seiner Ära sogleich verstanden wurden, denn „Lulu“erzählt, frei nach Woody Allen, „was wir immer schon über Sex gewusst haben, aber bisher nie auszusprechen wagten“.
Als Wedekind mit den Sittenkommissären rang, um reduzierte, zum Teil in Fremdsprachen camouflierte Ver- sionen seiner Dichtung in Umlauf bringen zu können, brachte Karl Kraus die Sache bereits auf den Punkt und nannte das Werk „die Tragödie von der gehetzten, ewig missverstandenen Frauenanmut, der eine armselige Welt bloß ins Prokrustesbett ihrer Moralbegriffe zu steigen erlaubt“.
Kritikern, die Wedekind vorwarfen, er hätte die „Müllhäufchen der Hintertreppe“thematisiert, kontert der wortgewaltige Kraus, hier würde die „Hintertreppenpoesie zur Poesie der Hintertreppe“. Das könne nur der überse-