»80 Prozent der Unfälle wären vermeidbar«
Die Zahl der Alpintoten ist gestiegen. Lawinenexperte Michael Larcher über unbelehrbare Haudegen, die Gewalt der Lawine, die erst versteht, wer sie selbst erlebt – und die Frage, ob Bergtote selbst schuld sind.
Zuletzt hatte man den Eindruck, es gibt fast täglich Lawinen, Unfälle, Tote im Schnee. Michael Larcher: Für mich ist das eine normale Situation. Wir hatten nicht außergewöhnlich viele Tote. Dramatisch war das Zusammenspiel von Neuschnee und Wind, ein Risikofaktor. Der Satz „der Wind ist der Baumeister der Lawine“ist hundert Jahre alt. Gleichzeitig sind die Verhältnisse einladend. Wir haben nach zwei mageren Wintern endlich Schnee, die Szene ist begeistert, der Zulauf steigt von Jahr zu Jahr. Wenn Sie Unfälle analysieren: In wie vielen Fällen müssen Sie sagen: Das wäre verhinderbar. Oder: Da ist jemand selber schuld? „Selber schuld“mag ich nicht gern. Selbst verantwortlich ist der passende Begriff, auch für das Risiko, das wir eingehen. Das ist aber auch der Reiz am Bergsteigen. Aber wenn wir unsere Empfehlungsfolien über Unfallberichte legen, sehen wir, dass 80 Prozent der Unfälle zu verhindern wären. Wenn unsere Empfehlungen umgesetzt würden. Was sind denn da die größten Fehler? Die wenigsten bereiten sich solide vor. Und die Vorbereitungen dauern nicht drei Stunden, das gelingt in einer halben Stunde. Zu wenige konsultieren den Lawinenlagebericht. Und ich muss Ziel und Verhältnisse abstimmen. Also Pläne auch einmal verwerfen. Es ist ja verständlich: Es ist Wochenende, ich hab frei, will raus und halte an meinen Zielen fest. Und ich hab keinen Bezug zur Natur und bin schlecht vorbereitet. Zu viele Tourengeher oder Schneeschuhwanderer verhalten sich bei allen Verhältnissen gleich, egal welche Warnstufe. Vor allem Stufe drei der fünfteiligen Skala ist gefährlich, ab vier sind die Warnungen sehr dramatisch. Wer ist der klassische Sportler, der ein Problem bekommt? Die Neulinge, die Städter? Nein, nein. Das typische Lawinenopfer ist ein erfahrener, gut ausgerüsteter, ortskundiger Bergsteiger. Es wäre völlig daneben, zu sagen: Das sind die Deutschen. Oder die jungen Wilden. Es ist der klassische Tourengeher, erschreckend häufig erfahrene Tourengeher. Es gibt keine andere Sportart, in der es so verlockend ist, in die Expertenfalle zu tappen. Zu glauben, man hat das im Griff, ist bei Lawinen besonders tü- ckisch. Und die alten Haudegen sind oft sehr lernresistent. Vor allem Männer. Die größten Chancen und die größte Neugier hat man bei Frauen und Jungen. Die sind offener und nicht so aus der alten Lawinenkunde sozialisiert, als man geglaubt hat, aus Erfahrung kann man Gefahren einschätzen. Was unterscheidet die neue Lawinenkunde? Neue Lawinenkunde ist ein Begriff, den in den Neunziger Jahren der alte Lawinenexperte Werner Munter eingeführt hat. Er hat mit einfachen Faustregeln das Risiko dramatisch reduziert, ohne dass man viel Wissen über Schneedeckenaufbau braucht. Er hat klare Empfehlungen entwickelt. Warnstufe drei: Bleib unter 35 Grad Hangneigung, usw. Diese Faustregeln werden durch eine Checkliste ergänzt: Ich habe Verschüttetensuchgerät, Schaufel, Sonde mit. Ich kann damit umgehen, ich halte Abstände beim Abfahren, ich fahre nicht gleichzeitig in Steilhänge ein. Verhaltensregeln, ähnlich dem Angurten beim Autofahren. 283 Menschen sind in Summe 2017 in Österreichs Bergen gestorben. Das sind elf Menschen mehr als 2016. Auch die Zahl der Verletzten ist von 7593 auf 7807 gestiegen. Die Zahl der Bergtoten lag 2017 unter dem langjährigen Mittel von 295 Toten, teilten das Kuratorium für Alpine Sicherheit und die Alpinpolizei mit. Überwiegend Männer sterben in den Bergen: 2017 waren es 245 Männer und 38 Frauen. Der Großteil der Todesopfer waren Österreicher mit 53 Prozent, gefolgt von Deutschen mit 30 Prozent. Ist das nicht eh das Einmaleins? Nein, ist es nicht, das ist immer noch nicht selbstverständlich. Dabei sind es so einfache Dinge, die das Risiko oder das Schadensausmaß stark verringern. Ob einer nach fünf Verschütteten sucht oder fünf nach einem, ist elementar. Wie stark reduziert Technik das Risiko? Um mehr als die Hälfte. Der Lawinenairbag reduziert die Todeswahrscheinlichkeit um mehr als 50 Prozent. Nur darf der Airbag nicht zu mehr Risikobereitschaft verführen. Waren Sie selbst schon in Lawinen? Ja, als Kind ist eine Riesenlawine an mir vorbeigeflossen. Als Bergführer habe ich Lawinen erlebt, ich war immer wieder Zeuge von Lawinenabgängen und bei vielen Rettungseinsätzen dabei, aber selbst nie mit meiner Tourengruppe unmittelbar betroffen. Wie erinnern Sie sich an den Lawinenabgang, den Sie als Kind erlebt haben? Ich war 13, mich hat das völlig kalt ge- Wandern bzw. Bergsteigen war 2017 die Bergsportdisziplin mit den meisten Toten (110), folglich gibt es die meisten Alpintoten im Hochsommer. Auf Skipisten oder -wegen sind 27 tödliche Unfälle passiert, rund 20 Prozent der Alpintoten starben bei der Jagd und bei Waldarbeiten. Bei Lawinenunfällen (137 im Vorjahr), sind 26 Menschen ums Leben gekommen, elf beim Variantenfahren, neun bei Skitouren, je zwei beim Eisklettern und Bergsteigen, je einer auf einer Hochtour und einer auf einem Güterweg.
Michael Larcher,
geboren 1959 in Hall in Tirol, ist Bergführer, Gerichtssachverständiger für Alpinunfälle und der Leiter des Referats Bergsport und der Bergsteigerschule im Österreichischen Alpenverein.
Aktuell
tourt Larcher mit der Vortragsreihe „Lawinenupdate“durch Österreich und Bayern. So sollen tausende Bergsportler für die Gefahren durch Lawinen sensibilisiert werden. Info und Termine: www.alpenverein.at/ lawinenupdate Ist die Gewalt einer Lawine überhaupt begreifbar, bis man sie erlebt? Wenn man die Gewalt nicht selber erlebt hat, wird man sie nie verstehen. Das gilt auch für mich, ich war nie in einer Lawine. Ich kenne das nur von Bergführerkollegen, die das erlebt haben. Da ist mir vom Zuhören klar geworden, dass dieses Erleben noch einmal eine völlig andere Erfahrung ist. Meine Beobachtung ist: Lawine ist ein Schlagwort, die Lawine ist der Star unter den alpinen Gefahren. Jeder hat eine Assoziation, eine Mischung aus Angst, Respekt, Faszination. Verstehen die Leute deshalb die Gefahr nicht? Oder pfeifen sie einfach drauf? Viele sind sich der Gefahr zu unbewusst. Dafür habe ich auch Verständnis. Die Landschaft schaut auch so unbedrohlich aus, weiß, weich, ausgeglichen. Die Gefahr ist nicht ersichtlich. Ärgern Sie sich manchmal, wenn Sie Unfallberichte lesen, über die Arglosigkeit? Nein, Ärger kenne ich nicht. Eher Betroffenheit. Die Menschen wollen nichts Böses, sie wollen einen schönen Tag erleben, die Natur genießen, und waren eben auf diese Gefahr nicht vorbereitet. Mir käme es überheblich vor, den Zeigefinger zu heben. Verstehen Sie Unverständnis und Ärger, mit denen manche Bergretter mitunter auf vermeidbare Unfälle reagieren? Das ist auch überheblich. Und nirgends überheblicher als beim Thema Lawine. Wenn man sich anschaut, wie viele Experten unter Lawinen kommen. Vorigen Winter gab es vier Bergführer-Unfälle mit Todesopfern. Wenn ich wütend bin, dann eher auf Bergführerkollegen. Wenn ich mir das Unfallbild anschaue und sage: Hallo, das hätte man erkennen können. Unfälle trotz Bergführer sind sehr selten, angesichts der Bergführer-Tage, die geführt werden. Aber es sind zu viele, das zeigt die Komplexität der Gefahr Lawine. Es ist ein Hinweis, dass man Regeln einhalten muss, auch als Experte. Wie groß bleibt das Restrisiko? Man kann es auf das Risiko reduzieren, das wir im Straßenverkehr eingehen.