Die alltäglichen Tests am lebenden Menschen
Tierversuche und eine Studie mit menschlichen Probanden sorgten im VW-Abgasskandal jüngst für große Aufregung. In der Pharma-Branche stehen klinische Tests mit Menschen aber auch in Österreich an der Tagesordnung.
Michael Melkersen und die Chefs des VolkswagenKonzerns werden keine Freunde mehr. Der Anwalt, der im US-Abgasprozess mehr als 300 VW-Fahrer vertritt, trug zum jüngsten PR-Tief des Autobauers bei. Er spielt eine Hauptrolle in der Dokumentation, die die von VW beauftragten Abgasversuche an lebenden Affen aufgedeckt hatte. „Widerlich“, „abscheulich“, „ethisch nicht zu rechtfertigen“, überschlugen sich die Kritiken von Politikern und Kommentatoren.
Am Freitagabend schlug VW zurück: Die Konzernanwälte beantragten, die erste Verhandlung mit Melkersen um ein halbes Jahr zu verschieben. Grund ist abermals die Dokumentation. Darin habe der Anwalt Assoziationen zum Holocaust wecken und die Jury gegen VW aufbringen wollen. Für die eigentlichen Vorwürfe der Kläger – Abgasbetrug bei Dieselautos – hätten die Nazi-Vergleiche aber keine Relevanz. VW zitierte Melkersen mit dem Satz: „Man kommt nicht umhin, an eine andere Reihe von Ereignissen zu denken, bei der Individuen vergast wurden – von einer Person, die tatsächlich bei der Eröffnung des ersten Volkswagen-Werks anwesend war.“Dann wird ein Bild von Adolf Hitler eingeblendet.
Der Anwalt bezieht sich damit auf ursprünglich geplante Versuche an Menschen, die später gegen die zehn Affen ausgetauscht wurden. Neben diesem – auch von Experten als unsinnig und daher unnötig angesehenen – Tierversuch traf die harsche öffentliche Kritik jüngst auch eine Untersuchung der Uniklinik Aachen, die von der Autoindustrie mitfinanziert wurde. Dabei atmeten gesunde und freiwillige Probanden unterschiedliche Konzentrationen an Stickstoffdioxid ein. Laut dem verantwortlichen medizinischen Leiter ging es um die Untersuchung von Stickoxidbelastungen am Arbeitsplatz. Die Belastung für die Probanden sei unter den gesetzlichen Grenzwerten gelegen. Dennoch sorgte auch diese Studie für mitunter hysterische Kritik. In der öffentlichen Diskussion wurde vielfach das Wort „Menschenversuche“in den Mund genommen – teilweise wurde auch in diesem Fall der Konnex zu Experimenten der NS-Zeit hergestellt. Grundlagenforschung. Mit ihrem Design, wonach die Probanden mit einem Schadstoff konfrontiert wurden, war die Studie zwar eher ungewöhnlich. „In der Grundlagenforschung gibt es aber natürlich auch Studien zu Umweltgiften“, sagt dazu Markus Zeitlinger vom Institut für klinische Pharmakologie an der Medizin-Universität Wien. Vornehmlich würden diese zwar im Rahmen von Tierversuchen erfolgen, „potenziell kann es aber auch am Menschen sein.“
Grundsätzlich gehe es bei Untersuchungen mit menschlichen Probanden – sogenannten klinischen Studien – aber um neue Arzneimittel. Und solche Untersuchungen gehören auch in Österreich zum Alltag. So wurden im Jahr 2016 laut Zahlen des Verbands der pharmazeutischen Industrie Österreichs (Pharmig) 448 klinische Studien in Österreich durchgeführt, 5644 Menschen waren dabei Probanden.
Der überwiegende Teil davon war von der Krankheit betroffen, gegen die das neue Medikament helfen soll. „Die Probanden dürfen keine Versuchskaninchen sein, sie müssen auch einen Benefit haben“, sagt Zeitlinger. Und dieser Benefit sei etwa, dass es die Chance gibt, ein neues und besseres Medikament früher zu bekommen. Zudem dürften manche Medikamente – vor allem gegen Krebs – gar nicht an Menschen ohne diese Krankheit gegeben werden, weil sie viel zu giftig seien.
165 Studienteilnehmer nahmen jedoch an sogenannten Phase-I-Studien Teil – also jenen, bei denen erstmals nach Tierversuchen ein Wirkstoff im menschlichen Körper getestet wird. Und das sind in der Regel Gesunde. „Ein gesunder Proband kann jedoch keinen Benefit haben, denn er ist ja gesund. Er kann nur einen Schaden haben“, sagt Zeitlinger. „Damit die Studie ethisch ist, muss also das Risiko so gering wie möglich sein. Es darf keine bleibenden Schäden geben.“Besteht nur das Risiko von Unannehmlichkeiten – wie etwa Erbrechen – übersteigt der mögliche Nutzen für die Allgemeinheit den Schaden für den Probanden, weshalb die verpflichtende Ethikkommission solche Studien erlaubt.
Für die Gesunden ist der Anreiz an einer Studie mitzumachen also in der Regel das Geld. „Wir wollen den Begriff Bezahlung vermeiden“, so Zeitlinger. Aber es gebe natürlich eine Aufwandsentschädigung – für die Zeit und auch für körperliche Unannehmlichkeiten. „Das fängt bei einer einzigen Blutabnahme bei 30 Euro an – es gibt aber auch Studien, wo die Probanden 1000 Euro und mehr erhalten.“Bevorzugt werden dabei junge Männer genommen, da es bei ihnen nicht die Gefahr einer unerkannten Schwangerschaft gibt. Aufgrund von Gendermedizin – Arzneimittel wirken bei Männern und Frauen unterschiedlich – würden zunehmend auch Frauen als Probandinen gebraucht werden. Diese müssten dann aber doppelt verhüten. Dass solche Studien nicht komplett frei von Risiko sind, zeigten Fälle wie jener aus Großbritan- nien aus dem Jahr 2006 (siehe nebenstehenden Artikel). Da die Probanden damals lebensgefährlich erkrankten, wurde der Ablauf klinischer Studien in den vergangenen Jahren zunehmend verschärft, sagt Christoph Baumgärtel von der Ages Medizinmarktaufsicht, die für die behördliche Zulassung der Studien zuständig ist. Dabei gehe es einerseits um die Sicherheit der Probanden, andererseits aber auch um die Qualität der Daten. So macht es den Behörden Kopfzerbrechen, dass viele Studien inzwischen nicht mehr in westlichen Ländern sondern in Indien oder Russland durchgeführt werden. „Dort gibt es viele sehr gute Forschungseinrichtungen. Aber wo Licht ist, ist auch Schatten“, so Baumgärtel.
Erst 2015 habe es einen RiesenSkandal wegen eines indischen Studienanbieters gegeben, der Daten manipuliert hatte. „Da wurde in der Folge ein Exempel statuiert und sämtliche Studien für ungültig erklärt“, so Baumgärtel. Hunderte Medikamente, die auf diesen Tests basierten, wurden auch in Europa vom Markt genommen. Grundsätzlich sei es aber oft nicht vermeidbar, dass die Pharma-Forschung global aufgestellt ist. „Bei seltenen Erkrankungen findet man nämlich auch im AKH nicht mehrere hundert Patienten“, sagt Baumgärtel. Ablauf. Wie läuft nun so eine klinische Studie aus der Sicht eines Probanden ab? Diese Frage kann Wilhelm Lahousen beantworten. Er hat zuerst als Medizinstudent als Proband und später auch als begleitender Arzt an zwei klinischen Studien teilgenommen. „Ich war damals ganz am Anfang des Medizinstudiums und bin über Freunde zu der Studie gekommen.“Stattgefunden hat der Test in einem Sanatorium. Getestet wurde ein retardiertes Morphin-Präparat. „Es ging dabei nicht um das Schmerzmittel an sich, sondern nur mehr um die Aufnahme im Körper“, so Lahousen.
Nachdem die Probanden auf ihre Gesundheit hin untersucht worden und über die Studie aufgeklärt worden sind, wurde ihnen das Mittel verabreicht und dann im Halbstundentakt Blut abgenommen, um den Morphin-Spiegel zu messen. „Einer der Probanden hat einen Beamer mitgehabt und wir haben halt den ganzen Tag Filme angeschaut.“
Getestet wurden dabei verschiedene Dosierungen. „Zuerst erhielt ich nur eine geringe Dosis, dann aber 100 Milligramm. An diesem Tag war ich wirklich ein bisschen dicht“, erinnert sich der Arzt heute. Von einer gefährlichen Menge war man aber weit entfernt. Dennoch war es wichtig, die Sicherheitshinweise – etwa weitgehende Nüchternheit – zu beachten. „Einer hat sich beim Frühstück noch ordentlich Butter aufs Kipferl gestrichen. Das war keine gute Idee.“Denn Darmkontraktionen und darauf folgendes Erbrechen waren bekannte Nebenwirkungen des Mittels.
Die Probanden waren mit dem Test – und vor allem der Bezahlung – aber dennoch zufrieden. Genaue Zahlen weiß Lahousen zwar nicht mehr. „Für einen Studentenjob, bei dem man eigentlich nicht viel getan hat, war es aber wirklich sehr gut bezahlt.“Ähnlich sind auch die Erfahrungen von Christian O. Er hat in den späten 1980er-Jahren rund zwei Jahre regelmäßig an klinischen Studien teilgenommen und damit einen Gutteil seines Lebensunterhalts bestritten. Aufgrund seines heutigen Berufs zieht er es vor, seinen vollen Namen nicht in der Zeitung zu lesen. „Ich war Student und hatte ein fettes Minus am Konto. Deshalb habe ich einmal im Monat an einer Studie teilgenommen.“Für die ein bis zwei Tage dauernden Tests hat er 3500 Schilling bekommen, erinnert sich der Grazer. „Das war etwa die Hälfte von dem, was
2016 wurden in Österreich 448 klinische Studien mit 5644 Probanden durchgeführt.