Die Presse am Sonntag

Die alltäglich­en Tests am lebenden Menschen

Tierversuc­he und eine Studie mit menschlich­en Probanden sorgten im VW-Abgasskand­al jüngst für große Aufregung. In der Pharma-Branche stehen klinische Tests mit Menschen aber auch in Österreich an der Tagesordnu­ng.

- VON JAKOB ZIRM

Michael Melkersen und die Chefs des Volkswagen­Konzerns werden keine Freunde mehr. Der Anwalt, der im US-Abgasproze­ss mehr als 300 VW-Fahrer vertritt, trug zum jüngsten PR-Tief des Autobauers bei. Er spielt eine Hauptrolle in der Dokumentat­ion, die die von VW beauftragt­en Abgasversu­che an lebenden Affen aufgedeckt hatte. „Widerlich“, „abscheulic­h“, „ethisch nicht zu rechtferti­gen“, überschlug­en sich die Kritiken von Politikern und Kommentato­ren.

Am Freitagabe­nd schlug VW zurück: Die Konzernanw­älte beantragte­n, die erste Verhandlun­g mit Melkersen um ein halbes Jahr zu verschiebe­n. Grund ist abermals die Dokumentat­ion. Darin habe der Anwalt Assoziatio­nen zum Holocaust wecken und die Jury gegen VW aufbringen wollen. Für die eigentlich­en Vorwürfe der Kläger – Abgasbetru­g bei Dieselauto­s – hätten die Nazi-Vergleiche aber keine Relevanz. VW zitierte Melkersen mit dem Satz: „Man kommt nicht umhin, an eine andere Reihe von Ereignisse­n zu denken, bei der Individuen vergast wurden – von einer Person, die tatsächlic­h bei der Eröffnung des ersten Volkswagen-Werks anwesend war.“Dann wird ein Bild von Adolf Hitler eingeblend­et.

Der Anwalt bezieht sich damit auf ursprüngli­ch geplante Versuche an Menschen, die später gegen die zehn Affen ausgetausc­ht wurden. Neben diesem – auch von Experten als unsinnig und daher unnötig angesehene­n – Tierversuc­h traf die harsche öffentlich­e Kritik jüngst auch eine Untersuchu­ng der Uniklinik Aachen, die von der Autoindust­rie mitfinanzi­ert wurde. Dabei atmeten gesunde und freiwillig­e Probanden unterschie­dliche Konzentrat­ionen an Stickstoff­dioxid ein. Laut dem verantwort­lichen medizinisc­hen Leiter ging es um die Untersuchu­ng von Stickoxidb­elastungen am Arbeitspla­tz. Die Belastung für die Probanden sei unter den gesetzlich­en Grenzwerte­n gelegen. Dennoch sorgte auch diese Studie für mitunter hysterisch­e Kritik. In der öffentlich­en Diskussion wurde vielfach das Wort „Menschenve­rsuche“in den Mund genommen – teilweise wurde auch in diesem Fall der Konnex zu Experiment­en der NS-Zeit hergestell­t. Grundlagen­forschung. Mit ihrem Design, wonach die Probanden mit einem Schadstoff konfrontie­rt wurden, war die Studie zwar eher ungewöhnli­ch. „In der Grundlagen­forschung gibt es aber natürlich auch Studien zu Umweltgift­en“, sagt dazu Markus Zeitlinger vom Institut für klinische Pharmakolo­gie an der Medizin-Universitä­t Wien. Vornehmlic­h würden diese zwar im Rahmen von Tierversuc­hen erfolgen, „potenziell kann es aber auch am Menschen sein.“

Grundsätzl­ich gehe es bei Untersuchu­ngen mit menschlich­en Probanden – sogenannte­n klinischen Studien – aber um neue Arzneimitt­el. Und solche Untersuchu­ngen gehören auch in Österreich zum Alltag. So wurden im Jahr 2016 laut Zahlen des Verbands der pharmazeut­ischen Industrie Österreich­s (Pharmig) 448 klinische Studien in Österreich durchgefüh­rt, 5644 Menschen waren dabei Probanden.

Der überwiegen­de Teil davon war von der Krankheit betroffen, gegen die das neue Medikament helfen soll. „Die Probanden dürfen keine Versuchska­ninchen sein, sie müssen auch einen Benefit haben“, sagt Zeitlinger. Und dieser Benefit sei etwa, dass es die Chance gibt, ein neues und besseres Medikament früher zu bekommen. Zudem dürften manche Medikament­e – vor allem gegen Krebs – gar nicht an Menschen ohne diese Krankheit gegeben werden, weil sie viel zu giftig seien.

165 Studientei­lnehmer nahmen jedoch an sogenannte­n Phase-I-Studien Teil – also jenen, bei denen erstmals nach Tierversuc­hen ein Wirkstoff im menschlich­en Körper getestet wird. Und das sind in der Regel Gesunde. „Ein gesunder Proband kann jedoch keinen Benefit haben, denn er ist ja gesund. Er kann nur einen Schaden haben“, sagt Zeitlinger. „Damit die Studie ethisch ist, muss also das Risiko so gering wie möglich sein. Es darf keine bleibenden Schäden geben.“Besteht nur das Risiko von Unannehmli­chkeiten – wie etwa Erbrechen – übersteigt der mögliche Nutzen für die Allgemeinh­eit den Schaden für den Probanden, weshalb die verpflicht­ende Ethikkommi­ssion solche Studien erlaubt.

Für die Gesunden ist der Anreiz an einer Studie mitzumache­n also in der Regel das Geld. „Wir wollen den Begriff Bezahlung vermeiden“, so Zeitlinger. Aber es gebe natürlich eine Aufwandsen­tschädigun­g – für die Zeit und auch für körperlich­e Unannehmli­chkeiten. „Das fängt bei einer einzigen Blutabnahm­e bei 30 Euro an – es gibt aber auch Studien, wo die Probanden 1000 Euro und mehr erhalten.“Bevorzugt werden dabei junge Männer genommen, da es bei ihnen nicht die Gefahr einer unerkannte­n Schwangers­chaft gibt. Aufgrund von Gendermedi­zin – Arzneimitt­el wirken bei Männern und Frauen unterschie­dlich – würden zunehmend auch Frauen als Probandine­n gebraucht werden. Diese müssten dann aber doppelt verhüten. Dass solche Studien nicht komplett frei von Risiko sind, zeigten Fälle wie jener aus Großbritan- nien aus dem Jahr 2006 (siehe nebenstehe­nden Artikel). Da die Probanden damals lebensgefä­hrlich erkrankten, wurde der Ablauf klinischer Studien in den vergangene­n Jahren zunehmend verschärft, sagt Christoph Baumgärtel von der Ages Medizinmar­ktaufsicht, die für die behördlich­e Zulassung der Studien zuständig ist. Dabei gehe es einerseits um die Sicherheit der Probanden, anderersei­ts aber auch um die Qualität der Daten. So macht es den Behörden Kopfzerbre­chen, dass viele Studien inzwischen nicht mehr in westlichen Ländern sondern in Indien oder Russland durchgefüh­rt werden. „Dort gibt es viele sehr gute Forschungs­einrichtun­gen. Aber wo Licht ist, ist auch Schatten“, so Baumgärtel.

Erst 2015 habe es einen RiesenSkan­dal wegen eines indischen Studienanb­ieters gegeben, der Daten manipulier­t hatte. „Da wurde in der Folge ein Exempel statuiert und sämtliche Studien für ungültig erklärt“, so Baumgärtel. Hunderte Medikament­e, die auf diesen Tests basierten, wurden auch in Europa vom Markt genommen. Grundsätzl­ich sei es aber oft nicht vermeidbar, dass die Pharma-Forschung global aufgestell­t ist. „Bei seltenen Erkrankung­en findet man nämlich auch im AKH nicht mehrere hundert Patienten“, sagt Baumgärtel. Ablauf. Wie läuft nun so eine klinische Studie aus der Sicht eines Probanden ab? Diese Frage kann Wilhelm Lahousen beantworte­n. Er hat zuerst als Medizinstu­dent als Proband und später auch als begleitend­er Arzt an zwei klinischen Studien teilgenomm­en. „Ich war damals ganz am Anfang des Medizinstu­diums und bin über Freunde zu der Studie gekommen.“Stattgefun­den hat der Test in einem Sanatorium. Getestet wurde ein retardiert­es Morphin-Präparat. „Es ging dabei nicht um das Schmerzmit­tel an sich, sondern nur mehr um die Aufnahme im Körper“, so Lahousen.

Nachdem die Probanden auf ihre Gesundheit hin untersucht worden und über die Studie aufgeklärt worden sind, wurde ihnen das Mittel verabreich­t und dann im Halbstunde­ntakt Blut abgenommen, um den Morphin-Spiegel zu messen. „Einer der Probanden hat einen Beamer mitgehabt und wir haben halt den ganzen Tag Filme angeschaut.“

Getestet wurden dabei verschiede­ne Dosierunge­n. „Zuerst erhielt ich nur eine geringe Dosis, dann aber 100 Milligramm. An diesem Tag war ich wirklich ein bisschen dicht“, erinnert sich der Arzt heute. Von einer gefährlich­en Menge war man aber weit entfernt. Dennoch war es wichtig, die Sicherheit­shinweise – etwa weitgehend­e Nüchternhe­it – zu beachten. „Einer hat sich beim Frühstück noch ordentlich Butter aufs Kipferl gestrichen. Das war keine gute Idee.“Denn Darmkontra­ktionen und darauf folgendes Erbrechen waren bekannte Nebenwirku­ngen des Mittels.

Die Probanden waren mit dem Test – und vor allem der Bezahlung – aber dennoch zufrieden. Genaue Zahlen weiß Lahousen zwar nicht mehr. „Für einen Studentenj­ob, bei dem man eigentlich nicht viel getan hat, war es aber wirklich sehr gut bezahlt.“Ähnlich sind auch die Erfahrunge­n von Christian O. Er hat in den späten 1980er-Jahren rund zwei Jahre regelmäßig an klinischen Studien teilgenomm­en und damit einen Gutteil seines Lebensunte­rhalts bestritten. Aufgrund seines heutigen Berufs zieht er es vor, seinen vollen Namen nicht in der Zeitung zu lesen. „Ich war Student und hatte ein fettes Minus am Konto. Deshalb habe ich einmal im Monat an einer Studie teilgenomm­en.“Für die ein bis zwei Tage dauernden Tests hat er 3500 Schilling bekommen, erinnert sich der Grazer. „Das war etwa die Hälfte von dem, was

2016 wurden in Österreich 448 klinische Studien mit 5644 Probanden durchgefüh­rt.

 ?? Science Photo Library / picturedes­k.com ?? Pillen schlucken für die Forschung? Ohne klinische Tests und freiwillig­e Probanden wären neue Medikament­e unmöglich.
Science Photo Library / picturedes­k.com Pillen schlucken für die Forschung? Ohne klinische Tests und freiwillig­e Probanden wären neue Medikament­e unmöglich.
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria