Der Nachbar, der Angst macht
Im Baltikum fühlt man sich seit Beginn der Ukraine-Krise in seinem tief sitzenden Misstrauen gegenüber Russland bestätigt. Die drei Länder rüsten auf – vor allem gegen den Krieg der Worte, Trolle und Hacker. Ein Besuch im Nordosten der EU.
Hunderte Feuer leuchten an diesem Februarabend in den Himmel über Vilnius. Hunderte Glocken läuten in ganz Litauen. Knapp 30 Kilometer von der Hauptstadt entfernt, auf der anderen Seite der Grenze, sollen es die weißrussischen Nachbarn deutlich hören: Litauen ist frei. Am 16. Februar 1918 hatte sich das kleine Land an der Ostsee vom zerfallenden Zarenreich losgesagt, Estland und Lettland folgten wenig später. Das soll auch hundert Jahre danach, am 16. Februar 2018, niemand vergessen. Auch nicht die früheren sowjetischen Besatzer.
Litauens Freiheitsfeuer kommen zu einer Zeit, in der die Eskalationsdynamik zwischen Ost und West seit dem Ende des Kalten Kriegs ihresgleichen sucht. Das manifestiert sich nicht nur im jüngsten Konflikt, ausgelöst vom Giftanschlag auf den russischen ExSpion Sergej Skripal, im Zuge dessen Dutzende Botschafter auf beiden Seiten ihre Schreibtische räumen mussten.
Dem Baltikum viel näher am Herzen liegt die Tatsache, dass sich die Nato seit dem Beginn des Kriegs in der Ukraine wieder auf ihre Bündnispolitik besinnt. 2017 schickte sie zusätzliche Bataillone mit 4000 Mann an ihre Ostfront in Polen, Lettland, Litauen und Estland. Für die Balten ist es die jahrelang ersehnte Rückendeckung. Für die Russen ist es die reine Provokation vor der Haustür.
Edvinas Kerza fühlt sich bestätigt. Kerza ist der Vizeverteidigungsminister von Litauen und leitet das 2015 gegründete nationale Zentrum für Cyber Security. „Wir haben in der EU und der Nato laut gewarnt, dass die Gefahr aus Russland neue Formen annimmt“, sagt er. Auf der Krim habe man eine Mischung aus Cyberattacken, Informationskrieg, verdeckt kämpfenden Truppen und Propaganda beobachten können. „Sie meinten, wir sind paranoid und dass die wahre Gefahr die Migration und nicht Russland ist.“Die Krim habe allen die Augen geöffnet. „Unsere waren schon weit offen“, sagt Kerza. Das Feindbild kommt zupass. Wer hier der Feind ist, steht außer Zweifel. Für den Innsbrucker Osteuropa-Experten Gerhard Mangott ist die zur Schau gestellte Angst historisch verständlich. „Aber sie wird auch für bestimmte Zwecke instrumentalisiert.“Stichwort Nato-Verstärkung. Die reale Gefahr eines Angriffs schätzt er als sehr gering ein. Dafür gebe es vier Gründe. Die baltischen Staaten sind anders als die Ukraine gut gerüstet. Sie sind anders als die Ukraine nicht bündnisfrei, Russland muss also damit rechnen, dass die transatlantische Gemeinschaft Beistand leisten wird. Sie haben zwar russische Minderheiten, aber die sind durchaus zufrieden, nicht in Russland, sondern in der EU zu leben. Und zu guter Letzt seien sie dem großen, russischen Nachbarn, der in Einflusssphären denkt, wohl auch nicht wichtig genug. „Das Baltikum ist für die Großmachtidentität Russlands unbedeutend“, sagt Mangott.
Ein Unwohlsein sei ihnen aber zuzugestehen. Das liege nicht nur an Großmanövern wie Sapad, bei dem vergangenen September offenbar bis zu 80.000 Russen nahe der baltischen Grenze aufmarschierten. Denn unabhängig davon arbeite der große Nachbar an der „Beschädigung der Sicherheit unterhalb der militärischen Kriegsschwelle“, sagt Mangott. Simpel ausgedrückt: Ein Krieg der vielen kleinen Misstöne ist im Baltikum im Gange. Dafür gibt es Menschen wie Janis Sarts. Er sitzt in einem weißen Haus an einer stark befahrenen Straße etwas außerhalb des Zentrums von Riga. Alle Fensterjalousien sind heruntergelassen. Eine hohe weiße Mauer umgibt das Grundstück, daran hängen Dutzende Überwachungskameras. Im Garten wehen schwach die Fahnen von Lettland und der Nato. Im Haus saß einst der sowjetische Geheimdienst KGB.
Heute ist es das Hauptquartier des Strategic Communications Centre of Excellence der Nato (StratCom). Sarts leitet es. Ihm ist die Betonung wichtig, dass sein Forschungszentrum zwar die Rolle von Propaganda und Desinformation für das Verteidigungsbündnis erforscht, aber kein Teil der Kommandostruktur ist. Insofern kann der Analyst freier sprechen. Und das tut er.
„Ich bin der Meinung, dass Russland versucht hat, zuerst die Wahlen in den USA und später in Frankreich zu beeinflussen“, sagt Sarts. Das sei kein Geheimnis „Sie glauben es ja auch selbst. Und das ist nichts, was ein guter Nachbar tun würde.“Seit der Annexion der Krim hat sich die Position der Balten aus seiner Sicht verbessert. Keiner hat ihnen davor zugehört, weil es besser ist, in einer Welt zu leben, in der Russland freundlich und offen für Geschäfte ist.“ „Gute Laune ist etwas anderes.“Während Experten in Tallinn in einem ähnlichen Zentrum für die Nato Hackerangriffe, Trojaner und Viren – also die digitale Seite des Kriegs – untersuchen, beschäftigen sich Sarts und sein Team mit der menschlichen.
Die Werkzeuge der Russen kommen aus dem Kalten Krieg, also lange vor Internetzeiten, erklärt er. „Irgendwann ab der Jahrtausendwende haben sie es wieder hervorgeholt und bei der eigenen Bevölkerung angewandt.“Um sie bei Laune zu halten? „Gute Laune ist etwas anderes“, antwortet Sarts trocken. „Es ist die Laune, die es braucht, um der Staatsführung die Unterstützung zu sichern.“Das könne Angst vor dem Westen sein. Oder Angst vor einer Zukunft ohne Putin. Nach einer Weile hätte Russland erkannt, dass man so eine Atmosphäre auch für die eigenen Zwecke im Ausland schüren kann.
Um Nachrichten unters Volk zu bringen, greife man in Litauen, Lettland und Estland ganz simpel auf das russische Staatsfernsehen zurück, da große Teile der Bevölkerung Russisch können und es empfangen. Daneben kämen in den sozialen Netzwerken falsche Nutzerprofile und russische Trolle zum Einsatz. Laut einer Analyse der StratCom aus November kamen 70 Prozent der russischsprachigen Wortmeldungen auf Twitter zur Nato im Baltikum von Roboterprofilen.
Die Nachricht an die Balten sei klar: „Sie sind gescheiterte Staaten, die ihre beste Zeit in der Sowjetunion hatten. Die Eliten und Europa sehen sie nur als Werkbank“, sagt Sarts. So etwas würde nun schon eine Zeit lang durch den Äther geistern und die Meinung in Teilen der Bevölkerung infiltrieren. Vor allem in Lettland und Estland, die eine deutlich größere russischsprachige Minderheit als Litauen haben, könne das auf Dauer einen Keil in die Gesellschaft treiben.
Vizeverteidigungsminister Kerza ist zurzeit deutlich besorgter, dass Hacker seine Infrastruktur lahmlegen. Etwa Teile des Heeres, des Energiesektors oder der Ministerien, sagt er. „So etwas ist in der Ukraine passiert.“Russland bestreitet das bis heute und antwortet auf solche Vorwürfe stets gleich. Auch diesen März, als eine Cyberattacke auf das Netz der deutschen Regierung bekannt wurde und die Spur laut Medien zu russischen Hackern führte. „Wir nehmen mit Bedauern zu Kenntnis, dass alle Hackerangriffe in der Welt mit russischen Hackern in Verbindung gebracht werden“, richtete Kreml-Sprecher Dmitrij Peskow aus.
Im Baltikum fühlt man sich angesichts der Summen, die EU und Nato zurzeit in die Stärkung der digitalen Verteidigung investieren, bestärkt und plant für den Notfall: Aktuell bildet das Cyber Security Center eigene IT-Eliteteams aus. „Wenn das Energienetz attackiert wird, bekommen sie einen Anruf“, sagt Kerza. Den Krieg aus dem Netz stellen seine Truppen auch bei Treffen mit den verbündeten Staaten nach. Jüngst musste die USA den Balten im Spiel zu Hilfe kommen, als ihre Infrastruktur zu Land, Wasser und Luft gehackt worden war. Kerzas Befürchtung: „Wir brauchen zu lange. Früher reichten Monate, heute sprechen wir von Tagen.“Litauens Sicherheitsbericht macht das recht unverblümt klar: „Aktuell kann Russland die Kämpfe im Baltikum innerhalb von 24 bis 48 Stunden aufnehmen“, steht darin.
Auch wenn die Balten in mancher Hinsicht übertreiben, müssen sie bereit sein, zurückzuschlagen, sagt Osteuropa-Forscher Mangott. „Das ist die Tragödie: dass wir an dem Punkt sind, wo sich beide auf den Angriff des anderen vorbereiten müssen.“Insofern seien die verstärkte Nato-Präsenz in der Region und das nationale Training gegen Hacker richtige Schritte.
Aber wie schützt sich ein Land gegen Worte? „Die Gesellschaft muss sich bewusst werden, dass sie eine Zielscheibe ist“, sagt Sarts. Das gelte genauso für Medien und Politiker, die zu oft auf Informationen hereinfielen und mitspielten. „Und vor allem muss der Staat eine eigene Geschichte erzählen. Wenn du immer nur hörst, dass das Land schlecht ist und auseinanderbricht, darfst du dich nicht wundern, wenn es irgendwann alle glauben.“
»Sie meinten, wir sind paranoid und dass die wahre Gefahr die Migration ist.« »Sie sind gescheiterte Staaten, die ihre beste Zeit in der Sowjetunion hatten.«
Die Reise fand im Rahmen von Eurotours 2017, einem Projekt des Bundespressedienstes, statt.