»Ein Ungar fühlt sich in Österreich nie als
Wenn Ungarn heute wählt, dürfen auch viele der rund 21.400 Ungarn in Wien ihre Stimme abgeben. Ihre Zahl hat sich seit 2011 fast verdreifacht. Wie sehen sie ihr Herkunftsland, was trennt sie, was eint sie? Eine Spurensuche.
Zuletzt sorgte ein Video für Ärger. Der ungarische Kanzleramtsminister Janos´ Laz´ar´ ließ sich vor wenigen Wochen in Wien-Favoriten filmen, wo er zu einem Rundumschlag ausholte: Die Straßen hier seien schmutzig, die Umgebung arm, die Kriminalität hoch. Schuld daran: die Flüchtlinge. Die populistische Aktion war Teil des ungarischen Wahlkampfs, der auch schon davor teilweise in Wien stattgefunden hatte.
Wenn Ungarn heute, Sonntag, ein neues Parlament wählt, dürfen auch viele der 21.342 Ungarn, die in Wien leben, wählen. Von ihnen gibt es deutlich mehr als früher. Seit die Ungarn 2011 vollen Zugang zum österreichischen Arbeitsmarkt bekamen, hat sich ihre Zahl in der Stadt fast verdreifacht. Doch wer sind die Wiener Ungarn, wie sehen ungarischstämmige Bürger ihr Herkunftsland, was trennt und eint sie? Eine Spurensuche in sieben Porträts. Erno˝ Deak´ kam mit 180.000 anderen. Als 1956 die Oktoberrevolution ausbrach, flüchtete er nach Österreich. Hier studierte er, war wissenschaftlicher Mitarbeiter der Österreichischen Akademie der Wissenschaften und ist derzeit Chefredakteur der ungarischen Zeitschrift „Becsi´ Naplo“.´ Davor war Deak´ (Geburtsjahr 1940) Präsident des Zentralverbands Ungarischer Vereine und Organisationen. Wobei die Ungarn gar nicht so stark in Vereinen organisiert seien. „Sie vertragen das Vereinsleben nur bis zu einem gewissen Grad.“Anders als Tschechen, Kroaten und Polen. 16 Vereine fasst der Dachverband in Wien, 50 seien es österreichweit.
Die Bandbreite reicht vom Ärzteverein über die Seelsorge und die Pfadfinder bis zur Tanzgruppe. Vor allem Ungarn, die neu in Wien sind, würden Vereine besuchen. „Aber je länger man in Österreich lebt, desto weniger groß ist das Interesse.“Seine Landsleute seien sehr anpassungsfähig. „Dann haben sie österreichische Freunde und den Verein nicht mehr nötig.“Ihre ungarischen Wurzeln vergessen sie jedoch nicht. „Selbstverständlich fahren sie wöchentlich oder monatlich nach Hause.“Dass so viele Ungarn nach Wien gekommen sind, führt er weniger auf die umstrittene Politik des rechtspopulistischen Ministerpräsidenten Viktor Orban´ zurück als auf die Verdienstmöglichkeiten. „Die sind hier einfach besser.“Das merke man auch im Burgenland, wo die Zahl der Wochen- und Tagespendler stark zugenommen habe. Für ihren Job ist Barbara K. sowohl in Ungarn als auch in Österreich tätig. Die 33-Jährige organisiert Sprachcamps für ungarische Kinder in Österreich. Vor sieben Jahren verlegte sie der Liebe wegen ihren Lebensmittelpunkt nach Wien. Nach dem Ende der Beziehung blieb sie. „Die Lebenssituation zuhause ist schwieriger als in Österreich.“Dabei hätte sich das Lebensniveau dort in den vergangenen Jahren deutlich gebessert. „Es ist gar nicht schwierig, Jobs zu finden. Auch die Bezahlung ist besser als früher.“Aber Budapest sei nicht so offen wie andere Großstädte.
K. zählt zu jener Gruppe, die einen Großteil der nach 2011 eingewanderten Ungarn ausmacht, glaubt man den Aussagen aus der Community: Sie sind jung und besser gebildet – und bereit, auch weniger gut bezahlte Jobs anzunehmen, solange sie eine Chance bekommen, mehr aus sich zu machen. So sieht das auch K. „Man rechnet sich in Österreich mehr Wohlstand und Aufstiegschancen aus.“Als sie ihre Firma gründete, habe sie in Österreich eine Unterstützung erhalten, die sie in Ungarn nie bekommen hätte. Für Ungarn selbst ortet sie noch viel Potenzial. „Unsere Regierung hat viel geschaffen, aber auch schlechte Entscheidungen getroffen.“Besonders in Hinblick auf die EU. Auch den Hass auf die Flüchtlinge kann sie nicht verstehen. Nachsatz: „Allerdings bin ich überzeugt, dass man Grenzen setzen muss. Aber auf keinen Fall, wie es gemacht wurde.“ Zehn Jahre ist es her, dass Lukacs´ Lasz-´ lo´ für sein Studium nach Wien kam – und wegen eines Jobs und der Liebe blieb. Mittlerweile hat der 30-Jährige, der an der Angewandten studierte, mit „Lukacs´ Laszl´o´ Vienna“sein eigenes Schuhlabel. Außerdem ist er Lehrer an einer Sonderschule im 23. Bezirk. Seine Schuhe werden in Ungarn produziert, alleine deswegen reist er regelmäßig zurück. Dort sieht er die Unterschiede zwischen den Ländern, aber auch Ähnlichkeit. „Die Rechtsbewegung gibt es da wie dort.“Auch die Angst vor dem Islam und Ausländern: „Ich höre die gleichen Geschichten – in zwei ver- schiedenen Sprachen.“Dabei sei er ja selbst Ausländer. Dass alle seine Landsleute rechts seien, sei aber auch ein Klischee. Er selbst wähle grün und sei kein Orban-´Fan, „aber wirtschaftlich hat er einiges richtig gemacht“. Anders sei das in Bildungsfragen und sozialen Belangen. Dass junge Gebildete weggehen, weiß auch er. Von zehn engen Freunden leben nur noch zwei in Ungarn. Der Rest ist in Europa verteilt. In Österreich hat Laszlo´ viele Wiener Freunde, er würde sich aber mehr ungarische Lokale wünschen. Die, die es gibt, seien für Ältere. „Die Ungarn sind im Vergleich zu Engländern oder Iren einfach weniger vernetzt.“ Julia´ N. ist den anderen Weg gegangen. Ihre Eltern kamen 1959 und 1956 als Kinder nach Wien. N. wurde in Österreich geboren, lernte erst im Kindergarten Deutsch. Nach der Matura wollte die 29-Jährige ihre Wurzeln kennenlernen und beschloss, in Budapest Wirtschaft zu studieren. Anfangs hatte sie die Idee, dortzubleiben. „Aber dann habe ich mir gedacht, dass ich in Wien doch bessere Chancen habe.“
In der Ungarn-Berichterstattung findet sie es oft schwierig, „sich ein klares Bild zu verschaffen.“Während in den ungarischen staatsnahen Medien eine sehr positive Seite gezeigt werde, seien die Berichte der oppositionellen Medien genau das Gegenteil. Auch seitens Österreich sei die Kritik stärker. „Manchmal fragt man sich: Was stimmt jetzt?“Aber auch ihr fällt viel auf, wenn sie in Ungarn ist. Etwa, dass das Lohnniveau noch immer im Verhältnis zu den Lebenserhaltungskosten niedrig sei. „Und das Gesundheitssystem ist einfach katastrophal, weil so viele Ärzte gegangen sind.“Sie selbst trifft viele Ungarn in Wien. N. trainiert in einem Volkstanz-Verein, außerdem besucht sie Veranstaltungen des Collegium Hungaricum. Das habe ein gutes Kulturprogramm. Eigentlich wollte Tivadar Mikes 1965 nach Deutschland fliehen – neun Jahre nach der Revolution. Er schaffte es bis Salzburg, wurde aufgehalten und musste um Asyl ansuchen. Was danach kam, ist eine (erfolgreiche) Migrationsgeschichte – aus einer anderen Zeit. Nach seiner Aufenthaltsgenehmigung fand Mikes einen Job in der Apotheke am Stephansplatz („Die haben mich mit Freude genommen“) und brachte es bis zur eigenen Apotheke – in der nun der Sohn arbeitet. Mikes hat vier Kinder und sieben Enkel. Auch seine Verbindung zu Ungarn ist stark. Regelmäßig fährt er zurück – beruflich wie privat.
Sein Herz schlägt für beide Länder. „Ein Ungar fühlt sich in Österreich nie als Ausländer. Wir haben mal zusammengehört.“Da er beide Staatsbürgerschaften besitzt, wird er am Sonntag wählen. Orbans´ Partei. „Wen sonst?“Die Kritik an dessen Flüchtlingspolitik versteht er nicht. „Aus meiner Sicht hat er das Richtige getan, damit Ungarn nicht überrannt wird“, sagt der 77-Jährige. Auch Korruptionsvorwürfe stören ihn nicht. „Wenn jemand Geld nimmt und es gewinnbringend für Ungarn einsetzt, dann ist das nicht korrupt.“ Sandor´ Richter tauscht an diesem Vormittag die Rollen. Er spricht jetzt nicht als renommierter Ökonom. Sondern als Bürger. Ein paar Meter trennen sein Büro im Wiener Institut für internatio-