Schillernder Stern der Literatur
Die Wiener Bestsellerautorin Vicki Baum, die als Kind an der Harfe verzaubert, wird zum ersten Medienstar der deutschen Literatur. Im brodelnden Berlin begeistert sie die Boh`eme und landet in Hollywood. Ein Leben wie in einem ihrer Romane. Das Etikett de
Leichtsinn und Lebensgier. Exzess und Extravaganz. Stil und Schamlosigkeit. Mit Kokain, dem Elixier der Avantgarde. Das sündige Berlin während der 1920er-Jahre, eine nervöse Metropole zwischen Glanz und Elend: In Tanzpalästen wird Frivolität zelebriert. Mit der Ausdruckstänzerin Anita Berber, die „das wilde Flackern und Brennen ihrer Generation“verkörpert.
Emanzipation greift um sich. Die neue Frau erregt Aufsehen. Weil sie freche, kurze Haare hat, Auto fährt und in der Öffentlichkeit raucht. Weil sie gleichberechtigt sein will, auch in der Liebe und Sexualität. Mittendrin in diesem Berlin ist eine junge Frau, die als ungeliebtes Kind eines jüdischen, hypochondrischen Beamten 1888 in Wien geboren worden ist und bald in Konzertsälen – als einzige Frau unter 80 Michael Horowitz Männern – mit ihrem Harfenspiel verzaubert: Vicki Baum. Bereits mit acht Jahren beginnt sie, Harfe zu spielen. 1911 lädt sie Bruno Walter ein, in Mahlers „Lied von der Erde“mitzuwirken.
15 Jahre später begeistert Baum die Berliner Boh`eme. Das unberechenbare Leben in einer Stadt, die jeden Moment über ihre zu hohen Stöckelschuhe stolpern könnte. Wo das sündige Leben Armut, Arbeitslosigkeit und soziale Konflikte überschatten soll.
Vicki Baums brodelnde Berliner Jahre schildert sie als ihre glücklichsten: „Ich stand früh auf . . . und besprach alle Haushaltsfragen mit meinem Dienstmädchen . . . in der warmen Jahreszeit fuhren wir nach einem leichten Frühstück allesamt hinaus, um rasch ein paar Stöße zu schwimmen . . . danach einige Stunden Arbeit bei Ullstein . . . Mittag nach strenger Diätvorschrift . . . mit den Kindern spielen . . . Abendbrot . . . jetzt hatte ich ein paar stille Stunden ganz für mich . . . habe meine Romane geschrieben . . . Häufig riefen mich um Mitternacht gute Freunde an . . . komm lieber mit mir tanzen – ist besser für dich. Gemacht? Gemacht.“
Sie arbeitet als Autorin für den Ullstein-Verlag. Die Lust am Schreiben ist bereits lang vorher erwacht. Bei einem Wettbewerb der Satirezeitschrift „Licht und Schatten“hat sie den ersten Preis gewonnen – der Hauptjuror ist Thomas Mann. 1920 erscheinen ihre ersten beiden Romane, „Frühe Schatten“und „Der Eingang zur Bühne“.
Bei Ullstein schreibt sie für verschiedene Magazine wie „Die Dame“– ein „Journal für den verwöhnten Geschmack“, für das Künstler wie George Grosz oder Tamara de Lempicka die Titelbilder gestalten, und für den „Uhu“, ein „leicht lesbares Zeitgeist-Kaleidoskop“, und die „Berliner Illustrirte Zeitung“, in der fünf ihrer Romane zuerst in Fortsetzung erscheinen. Die Auflage der Illustrierten steigt rasant auf zwei Millionen, Vicki wird zum schillernden Star des Hauses Ullstein und des Berliner Boulevards. „Die langweilige Erotik.“Die erfolgreiche Romanautorin, auch eine Meisterin der ironischen, kurzen Form, verfasst Feuilletons wie „Die langweilige Erotik“oder „Bedarf an Männern“und tritt als Testimonial einer Armbanduhr auf, und zwar lang bevor Astronauten und Schauspieler für Uhren Werbung machen: Vicki hilft ihre „Alpina-Uhr“, „trotz aller Arbeit immer Herrin meiner Zeit zu bleiben“.
Der Ullstein-Verlag vermarktet seine Erfolgsautorin hemmungslos: als Symbol der starken, selbstbewussten „neuen Frau“. Von ihrem Mann finanziell unabhängig, erfolgreich und Mutter zweier Söhne, nimmt sie bei Sabri Mahir, der in einem Zirkus zugleich gegen vier Boxer kämpft, Boxunterricht. In seinem Studio am Kurfürstendamm finden Teestunden am Ring statt – hier trifft sie immer wieder Bertolt Brecht, der auch bald als Mitarbeiter für „Die Dame“gewonnen werden kann.
Mit „Menschen im Hotel“, einem Kolportageroman mit Hintergründen, wird Vicki Baum bald weltberühmt. Wie schon Thomas Mann im „Zauberberg“und Graham Greene im „OrientExpress“, der im „Spectator“über die Wiener Autorin eine hymnische Kritik schreibt, wählt sie einen isolierten Schauplatz mit zufällig aufeinandertreffenden Darstellern.
Seelisch deformierte Figuren, ein Kaleidoskop von Schicksalen, die miteinander verwoben werden, nachdem die Protagonisten durch die Hoteldrehtür eingetreten sind: der verarmte Baron Gaigern, Betrüger und Trickdieb. Die alternde Primaballerina Grusinskaja. Der todkranke Buchhalter Kringelein, der die zänkische Frau verlassen hat, um seine letzten Wochen zu genießen. Dr. Otternschlag, der mit entstelltem Gesicht aus dem Krieg heimgekehrt ist. Und Flämmchen, die Stenotypistin mit dem „blühenden Stiefmütterchengesicht“, die Generaldirektor Preysing längst den Kopf verdreht hat.
Baum recherchiert gewissenhaft. Für „Menschen im Hotel“macht sie als Zimmermädchen im Hotel Bristol sechs Wochen lang täglich 40 Betten und putzt Toiletten. Bevor sie in „Der große Ausverkauf“das Schicksal einer G eburt: 24.Jänner in Wien. Erster Roman: „Frühe Schatten“. Erster Erfolg: Stud. chem. Helene Willfüer. Verfilmung des Romans „Menschen im Hotel“mit G reta G arbo. Tod: 29. August in Hollywood. Verkäuferin beschreibt, arbeitet sie in einem Kaufhaus. Ihre Erfolgsrezeptur reicht von atmosphärischer Dichte und brillanter Schilderung der Charaktere bis zur Erzählung einer Liebesnacht. Voller Delikatesse, fern von sexuellem Exhibitionismus heutiger Autorinnen. Ein Welterfolg. Ihre Hotelsaga wird zu einem gigantischen Welterfolg: als Buch mit einer halben Million Auflage allein in Deutschland und in 16 Sprachen übersetzt, im Theater, im Kino – dreimal verfilmt, mit Greta Garbo als Tänzerin Grusinskaja 1932 unter dem Titel „Grand Hotel“produziert, gewinnt der Film einen Oscar. Als ihre Hotelgeschichte der größte BroadwayHit seit 30 Jahren wird, reist Vicki Baum nach Amerika und wird als Star gefeiert, nicht nur die „New York Times“streut ihr Rosen. Sie lässt sich mit ihrer Familie in Kalifornien nieder, doch das Leben hier erstaunt sie: „Den Amerikanern ist das Trinken wichtiger als das Essen, das Aussehen ihrer Speisen wichtiger als der Geschmack.“
Sie entwickelt für die Dietrich und Maurice Chevalier Filmtreatments, die jedoch abgelehnt werden. Sie unternimmt Reisen in die ganze Welt, ihre Bandbreite ist facettenreich: Sie dreht Filme wie über rituelle, balinesische Tänze, schreibt aber auch für „Good Housekeeping“. So wie früher in Berlin, als sie in der „Grünen Post“unter dem Pseudonym Der alte Gärtner Gartentipps gab oder im „Uhu“meinte: „Liebe ist die kostbarste Medizin für die Schönheit.“
Der Zwiespalt zwischen populärer und anspruchsvoller Literatur be- stimmt das Leben dieser Wiener Frau von Welt. Trotz Dutzender Romane wird Vicki Baum als Trivial-Autorin abgetan, das Etikett der Unterhaltungsschriftstellerin bleibt am ersten Medienstar der deutschen Literatur kle-
Der Verlag vermarktet sie als Symbol der starken, selbstbewussten, »neuen Frau«. Der Zwiespalt zwischen populärer und anspruchsvoller Literatur bestimmt ihr Leben.
ben. In ihren Memoiren bezeichnet sie sich kokett als „erstklassige Schriftstellerin zweiter Güte“. Doch längst widerspricht nicht nur Elke Heidenreich: „Vicki Baum ist eine erstklassige Schriftstellerin erster Güte!“
Die bisher erschienenen Serienteile von „Dichter & Denker“finden Sie online: diepresse.com/DichterundDenker