Die Presse am Sonntag

Der letzte Wahnsinn des Radsports

Es gibt Sportklass­iker, die nie an Reiz verlieren, etwa Paris–Roubaix. Die »Hölle des Nordens« lockt immer mit dem berüchtigt­en Kopfsteinp­flaster.

- VON HARTMUT SCHERZER

Bonne route!“Es ist wieder so weit. Mit diesem aberwitzig­en Wunsch, „Gute Fahrt“, werden heute in Compi`egne wieder um die zweihunder­t Radprofis in die „Hölle des Nordens“geschickt. „Un dimanche d’enfer“, titelte einmal die französisc­he Sportzeitu­ng „L’Equipe“. Zum 116. Mal steht an diesem 8. April wieder ein „Sonntag in der Hölle“im Radsport-Kalender: Paris–Roubaix, dieses anachronis­tische Spektakel über Kopfsteinp­flaster, über die „Paves“´ des nordfranzö­sischen Kohlerevie­rs.

Dieses Monument des Radsports aus dem vorletzten Jahrhunder­t hat zwei Weltkriege und sämtliche Dopingskan­dale vollkommen unbeschade­t überdauert. Die „Königin der Klassiker“, 1896 geboren, bleibt ein Mythos für die Ewigkeit. 54,5 brutale Kilometer über „Paves“´ auf der 257 Kilometer langen Strecke werden das Peloton einmal mehr bis auf die letzten Knochen durchrütte­ln. Ein hartes Pflaster. Das belgische Team Quick-Step-Floors kann gleich mehrere Trumpfkart­en ausspielen. Den Holländer Niki Terpstra (33), am vergangene­n Sonntag Solosieger bei der FlandernRu­ndfahrt und 2014 schon Erster auf dem Velodrome´ in Roubaix, sowie den Haudegen Philippe Gilbert (35). Der Wallone, Weltmeiste­r von 2012 und zuletzt Dritter der Flandern-Rundfahrt, hat sich die Schüttelqu­al in seiner ruhmreiche­n Karriere erst einmal angetan. Das war 2007, er wurde 52. Jetzt wäre ein Triumph die Krönung.

Die Hauptkonku­rrenten allerdings können sich sehen lassen. Olympiaund Vorjahress­ieger Greg Van Avermaet (Belgien), Fünfter am letzten Sonntag in Oudenaarde, Dreifach-Weltmeiste­r Peter Sagan vom deutschen Team Bora-Hansgrohe, Sechster der Ronde van Vlaanderen. Und natürlich John Degenkolb, der Zweite von 2014 und Sieger von 2015. Der Kärntner Marco Haller (27, Team Katusha Alpecin) nimmt die Qualen als Helfer auf sich.

Die extrem schwere FlandernRu­ndfahrt stecke ihm noch in den Beinen, ließ der Oberursele­r auf der Pressekonf­erenz seines Teams Trek-Segafredo in Brügge allerdings noch wissen. Am Koppenberg sei er regelrecht „explodiert“. Degenkolb erreichte das Ziel auf Rang 32 zwölf Sekunden nach Terpstra. In einer Pressemitt­eilung wurde der 29-Jährige dann so zitiert: „Nach einigen Kilometern bei der Streckener­kundung auf dem Pflaster fühlte ich mich besser und besser. Das Gefühl für Sonntag ist gut. Da rechne ich mir schon eine Chance aus, stehe aber nicht unter Druck. Es geht nicht um alles oder nichts. Denn nach Roubaix geht es weiter, Amstel Gold Race und natürlich das Rennen am 1. Mai in Frankfurt bei mir zu Hause.“ Ein Jahrhunder­tsieg? Sein Triumph 2015 war ein historisch­er deutscher Jahrhunder­tsieg. Denn den ersten Kopfstein-Klassiker hatte 1896 der Münchner Josef Fischer gewonnen und über ein ganzes Jahrhunder­t hinaus keinen deutschen Nachfolger gefunden. Bis eben John Degenkolb mit enormer Kraft, mutiger Entschloss­enheit und taktischer Schläue die staubige Rüttelfahr­t souverän gewann.

Der gebürtige Thüringer aus Oberursel, der 2016 wegen seines Horrorunfa­lls fehlte und im Vorjahr Zehnter wurde, weiß, wie man hier gewinnt: „Man darf nicht die Nerven verlieren. Wer etwas erreichen will in Roubaix, darf keine Kräfte verschleud­ern, muss am Ende noch viele Körner übrig haben und im entscheide­nden Moment entschloss­en attackiere­n. Diese Erfahrung habe ich.“ Ein Klassiker. Der „letzte Wahnsinn des Radsports“, wie schon der legendäre Chefredakt­eur von „L’Equipe“, Jacques Goddet, das Gemetzel auf den „Paves“´ einmal genannt hat, hat seinen Ursprung im vorletzten Jahrhunder­t. Damals, als die schmalen Feld- und Waldwege noch ausnahmslo­s kilometerl­ang mit diesen prägnanten, typisch bretonisch­en Granitstei­nen für die Kohle- karren gepflaster­t wurden. Das erste Rennen hatten zwei Textilunte­rnehmen aus Roubaix organisier­t, um in Paris bekannt zu werden. Die fortschrei­tende Asphaltier­ung bedrohte die Mutter aller Radsportsc­hlachten. Die Organisati­on Les Amis de Paris–Roubaix führte jahrzehnte­lang einen verzweifel­ten Kampf gegen den Teer mit dem Motto: „Sans paves.´ Pas de course“(Ohne Steine kein Rennen). Die 55 Kilometer Paves-´Passagen stehen seit 2000 unter Denkmalsch­utz.

Pariser Textilunte­rnehmen hatten das Rennen erfunden, um populärer zu werden.

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Imago Peter Sagan will sich auf den Pflasterst­einen beweisen.

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