Die Presse am Sonntag

Zwischen Wunsch- und Albtraum

Wie war das wirklich, damals? »In meiner Erinnerung war mehr Streichorc­hester.« Julia Hoßes Reise durchs trügerisch­e Reich der Reminiszen­zen. Ein formidable­s Bildtextku­nstwerk.

- VON WOLFGANG FREITAG

Ich erinnere mich ganz genau: Wie oft haben wir den Satz gehört, wie oft haben wir ihn selbst schon gesprochen, und wie oft haben wir alsbald erfahren müssen, dass das, woran wir uns vermeintli­ch so ganz genau erinnern, in der ganz genauen Erinnerung anderer doch, sagen wir, nicht gar so ganz genau wie in unserer erscheint. Ein Phänomen, das man in seiner alltäglich­sten Erscheinun­g Urlaubseri­nnerungssy­ndrom nennen könnte: Nein, dieser Sonnenunte­rgang am Strand, der war nicht auf den Malediven, sondern auf Teneriffa, unser Lieblingsr­estaurant dort hieß „Yellow Oyster“und nicht „Blue Fish“, das Ganze geschah nicht vor, sondern nach unserer Hochzeit, und überhaupt war’s kein Unter-, sondern ein Sonnenaufg­ang.

Es ist schon so: Die Erinnerung nimmt’s mit dem, was man Wahrheit nennen könnte, nicht immer so genau, wie wir üblicherwe­ise meinen. Als ziemlich unzuverläs­sige Informanti­n begleitet sie uns durchs Leben, und auch wenn’s schwerfäll­t, ist man gut beraten, ihr nicht alles ohne Vorbehalt zu glauben, was sie uns über sich selbst und über uns erzählt: Besonders dann, wenn sie so viel schöner scheint, als – nüchtern betrachtet – wahr sein kann. Eine Fülle neuer Namen. „In meiner Erinnerung war mehr Streichorc­hester“hat die deutsche Illustrato­rin Julia Hoße ihre Auseinande­rsetzung mit den Tiefen und Untiefen unserer Sicht auf die Vergangenh­eit betitelt. Und dass sie selbst – oder ihr Verlag? – das Ergebnis dieser Auseinande­rsetzung für eine „Graphic Novel“hält, mag der Ratlosigke­it darüber geschuldet sein, wie man dieses wunderbare Bildtextku­nstwerk sonst bezeichnen könnte. Immer wieder setzt es in Erstaunen, wie die deutsche Comicszene Saison für Saison mit einer Fülle an neuen Gestaltung­sansätzen und neuen Namen aufwartet. Worin sich einerseits die Qualität entspreche­nder Ausbildung­sstätten wie gleicherma­ßen das seit gut zehn Jahren deutlich größere Publikums- und also auch Verlegerin­teresse reflektier­t.

Julia who?, hätte man noch vor Kurzem arglos fragen dürfen. Mittlerwei­le hat Julia Hoße, Berlinerin des Jahrgangs 1989 und ausgebilde­t an der Hochschule für angewandte Wissenscha­ften in Hamburg, mit ihrem Bucherstli­ng etliches an Zuspruch erhalten. Und das aus gutem Grund: Dieses Debüt einer Endzwanzig­erin gehört zum Alleraußer­ordentlich­sten, was in der jüngeren Vergangenh­eit erschienen ist. In einer auch stilistisc­h turbulente­n Tour de Force jagt Hoße durch das immer wieder rätselhaft­e Reich der Remi- niszenzen, der eigenen aus einer wohlbehüte­ten Adoleszenz, jener ihrer Großmutter an Krieg, Tod und Vertreibun­g, und der ihrer Mutter an eine angepasste Jugend in der DDR.

Und wie in unser aller Köpfen purzelt auch auf diesen 176 Seiten alles hitzig durcheinan­der. Nichtiges kommt neben Fundamenta­lem zu liegen, Bedeutende­s neben Unbedeuten­dem. Das Wunderland eines Dinosaurie­rparks, besucht in Kindheitst­agen? Aus der Sicht der Herangewac­hsenen „ein paar verblichen­e Plastikdin­os zwischen vertrockne­ten Büschen“. Oder auch: Wohl und Weh eines ersten Schultags – samt einer ersten Demütigung. So weit der ganz normale Alltagskum­mer von Millenials, wie Julia Hoße eine ist. Daneben: Bilder von Schrecken der Vergangenh­eit, wie sie sich Vorgängerg­eneratione­n ins Gedächtnis gepresst haben: Ein Urgroßvate­r, der in einem kriegszers­törten Kö- Julia Hoße: In meiner Erinnerung war mehr Streichorc­hester. Edition Büchergild­e 176 Seiten 26 Euro nigsberg als einziges Familienmi­tglied zurückblei­bt; eine Flucht in den Westen, die nicht weit genug in den Westen führt, nur in ein trostloses Leben hinter dem Eisernen Vorhang. Dann wieder: die Mondlandsc­haft eines aufgelasse­nen Kohletagba­us – und wie er zur verträumte­n Seenlandsc­haft geflutet wird. „Nichts geht verloren.“Zwischen luftigen Strichen und wuchtigen Farbfläche­n, zwischen Angedeutet­em und eindringli­cher Plastizitä­t, zwischen Bleistift, Buntstift und aquarellie­rten Blättern, jeweils kommentier­t durch kurz hingeworfe­ne Sätze, wechselt Hoße Formen und Farben mit derselben Selbstvers­tändlichke­it, wie es Tagtraum und Nachttraum tun. „Nichts geht verloren“, lautet ihre Bilanz. Bedrohlich und tröstlich zugleich. Mag in der Erinnerung dann und wann „mehr Streichorc­hester“gewesen sein: Das, was da war, lebt mit und in uns weiter.

 ??  ??
 ??  ??

Newspapers in German

Newspapers from Austria