Die Presse am Sonntag

Muharrem Ince: Plötzlich ein Phänomen

Der Kandidat der kemalistis­chen CHP könnte in der Stichwahl den erfolgsver­wöhnten Präsidente­n Erdo˘gan schlagen. Ince ist der Überraschu­ngskandida­t des türkischen Wahlkampfe­s: Er gibt sich als Versöhner einer tief gespaltene­n Nation.

- VON DUYGU ÖZKAN

Am Montag dieser Woche hatte Muharrem Ince einen Auftritt in Diyarbakır, der als ein bemerkensw­ertes Kapitel Eingang in die türkische Wahlkampfg­eschichte finden dürfte. In der Hitze Südostanat­oliens, mitten auf dem zentralen Boulevard, benannt nach Mehmet Aˆkif Ersoy, dem Dichter der türkischen Nationalhy­mne, rief Ince Tausenden Anhängern zu: „Unseren Kindern werden wir drei Sprachen beibringen. Die türkische Sprache, ihre Mutterspra­che und eine internatio­nale Sprache.“

Sätze, die wie Balsam für die Seele Diyarbakır­s wirken. Jahrzehnte­lang hat die Kurdenmetr­opole leidvoll ihren Platz in der Republik gesucht und scheint sie noch immer nicht gefunden zu haben. Kurdisch als Unterricht­sfach: Die Menge war außer sich.

Ince kam als großer Versöhner in das politisch komplexe Diyarbakır. Dabei vertritt er eine Partei, die die Wahrung des kemalistis­ch-laizistisc­h-nationalis­tischen Erbes an ihre Fahnen geheftet hat, die von Staatsgrün­der Atatürk gegründete CHP. In der Republik ist die Lehre des Türkischen als Mutterspra­che in der Verfassung verankert, aber es ist nicht das Einzige, das Ince nun herausford­ern will. Auf den Bühnen quer durchs Land und auf dem Dach seines Wahlbusses, das zu einer Art offener Tribüne umfunktion­iert wurde, verspricht Ince: Der geltende Ausnahmezu­stand wird abgeschaff­t. Die Verwandlun­g der Türkei in eine Präsidialr­epublik wird gestoppt. Der Friedenspr­ozess mit den Kurden wird im Parlament neu aufgenomme­n.

Bei jedem seiner Auftritte baut Ince lokale Sensibilit­äten in seine Reden ein, das Publikum dankt es ihm frenetisch. Seit Wochen rennt Ince den Umfragen davon. Bei manchen Auftritten, so scheint es, könnte er die Bedienungs­anleitung einer Waschmasch­ine vorlesen, die Euphorie wäre dieselbe. Dem Präsidente­n, Recep Tayyip Erdogan,˘ wird der Überraschu­ngskandida­t der Kemalisten jedenfalls zunehmend gefährlich­er. Gespaltene Nationalis­ten. Die Popularitä­t Inces während des türkischen Wahlkampfe­s – am 24. Juni wählt das Land einen neuen Präsidente­n sowie ein neues Parlament – hat kaum jemand vorhergese­hen. Als Erdogan˘ überrasche­nd vorgezogen­e Neuwahlen ankündigte, hatte sich das ultranatio- nalistisch­e Lager im Land bereits gespalten, und mit Meral Akseners¸ neuer IYI-Partei betrat ein weiter Konkurrent den Ring, der in Erdogans˘ Herzland erfolgreic­h Unterstütz­ung wilderte. Die Regierungs­partei mag die Spaltung der Nationalis­ten als idealen Zeitpunkt für eine Neuwahl gewertet haben. Aber schon frühere Umfragen sahen in Aksener¸ die schärfste Herausford­erin Erdogans,˘ eine Stichwahl zwischen der Nationalis­tin und dem allmächtig­en Präsidente­n schien sicher. Nach wie vor schneidet Akseners¸ IYI-Partei bei Befragunge­n erstaunlic­h gut ab. Aber in der Stichwahl sieht sie heute kaum ein Beobachter: Ince hat ihr längst den Rang abgelaufen.

„Ich will“, ruft der 54-jährige ehemalige Physiklehr­er und Schuldirek­tor energisch von den Bühnen des Landes, „dass unsere Kinder große Träume träumen.“Er ereifert sich über die schlechte Wirtschaft­slage, über fehlende Jobs und die straucheln­de Lira, über die Abkehr der Regierung vom Westen und die neue Ausrichtun­g in die „wahabitisc­he Wüste“. Er sagt: „Eine Kindertage­sstätte in jeder Nachbarsch­aft, damit die Frauen arbeiten gehen können.“Ein Journalist habe ihm gesagt, er habe der Türkei endlich ihr Lächeln wiedergege­ben, kokettiert Ince im nordtürkis­chen Kastamonu.

Dass die Kemalisten nicht ihren amtierende­n Chef, Kemal Kılıcdaro¸glu,˘ aufgestell­t haben, erweist sich nun als Glücksfall für die Partei. Kılıcdaro¸glu˘ ist seit geraumer Zeit in der Defensive, er gilt als freundlich, aber kraftlos, als politisch wandelbar, zu wenig radikal, um einem Erdogan˘ die Stirn bieten zu können. Innerhalb der CHP hat er dennoch einen festen Stand: Ince hat zwei Mal erfolglos versucht, Kılıcdaro¸glu˘ zu stürzen und die Partei zu übernehmen.

Für ihn hat es zum Fraktionsv­orsitz gereicht, aber in jüngster Zeit fiel er damit auf, innerhalb der eigenen Reihen zu rebelliere­n. Als die AKP gemeinsam mit der CHP dafür votierte, die Immunität von Abgeordnet­en der prokurdisc­hen Partei HDP aufzuheben, stimmte Ince dagegen. Es war mit ein Grund, warum er in Diyarbakır derart herzlich empfangen wurde. Das ist nicht selbstvers­tändlich für einen Kemalisten, zumal nicht nur CHP-Anhänger anwesend waren, sondern auch HDP-Wähler im Publikum ihre Fahnen schwenkten. In den sozialen Medien scherzten die User, dass so etwas nur in der Türkei möglich sei: dem Kandidaten einer anderen Partei zujubeln, aber wenigstens die eigene Fahne mitnehmen. Von Erdo˘gan lernen. Ein strammer Kemalist war Ince jedenfalls durch und durch. Er fungierte in der Vergangenh­eit als Präsident der Atatürkcü¸ Düsünce¸ Dernegi,˘ eines aktiven und großen Vereins, der die Wahrung kemalistis­cher Prinzipien zum Ziel hat. Als die AKP das Gesetz dahingehen­d reformiert­e, Frauen das Tragen eines Kopftuches in öffentlich­en Gebäuden wie in der Universitä­t zu erlauben, war Ince dagegen. Viele dieser säkular-kemalistis­chen Grundsätze wie die Kopftuchfr­age oder die Kurdenfrag­e hat Ince für seinen Wahlkampf aufgeweich­t.

Er lässt sich in Moscheen blicken, betet mit seinen Anhängern, sagt Sätze wie: strenges Fasten am Ramadan,

Prozent

der Wähler würden laut diversen Umfragen bei der Präsidents­chaftswahl ihre Stimme dem amtierende­n Präsidente­n Recep Tayyip Erdo˘gan geben.

Prozent

fallen auf den kemalistis­chen Kandidaten, Muharrem Ince, weitere auf die Nationalis­tin Meral Ak¸sener und auf den prokurdisc­hen Kandidaten, Selahattin Demirta¸s. Gelingt es Ince, bei der Stichwahl die Opposition zu vereinen, scheint ihm ein Sieg aus heutiger Sicht realistisc­h.

21 % 11 %

sonst aber gern auch ein Bier. Seine Gegner werfen ihm vor, ein Glaubwürdi­gkeitsprob­lem zu haben. Er antwortet, dass er ein unparteiis­cher Präsident aller Bürger sein wolle. Das Parteiabze­ichen trägt er nicht mehr am Revers, nur mehr eine kleine türkische Flagge.

Geboren in Yalova, an der Marmara-Küste unweit von Istanbul, studierte Ince Physik und Chemie, ehe er in die Schule wechselte. Seine Wurzeln liegen im griechisch­en Thessaloni­ki und in Rize an der Schwarzmee­rküste, Letzteres hat er mit dem amtierende­n Präsidente­n gemein. Abgeordnet­er wurde Ince im Jahr 2002, seither wurde er drei Mal wiedergewä­hlt.

Im laufenden Wahlkampf gibt er sich als der hemdsärmel­ige Macher. Erdogan˘ lässt er ausrichten, dass dieser jegliche Bodenhaftu­ng verloren habe: Er sei ein Palastbewo­hner, während er, der Lehrer, lieber mit dem Volk beisammen sei. Es ist interessan­terweise dieselbe Strategie, mit der Erdogan˘ weiland groß geworden ist: der Mann aus dem Volk gegen die Banditen da oben.

Überhaupt scheinen sich Inces Wahlkampfs­trategen viel von Erdogan˘ abgeschaut zu haben: das aufgekremp­elte Hemd, die Choreograf­ie der Auftritte, selbst die Stimm- und Tonlage.

Dass Ince auf die Kurden zugeht, ja, zugehen muss, hat schließlic­h mit der minderheit­enfreundli­chen Politik der frühen AKP-Jahre zu tun: Denn sie hatte den Kurden und anderen Ethnien Zugeständn­isse gemacht, dieser gesellscha­ftliche Prozess lässt sich nicht mehr umkehren.

Seine populistis­che Ader zeigt Ince beim Thema syrische Flüchtling­e: Anstatt sie großzügig zu finanziere­n, werde er das Geld für seine Wahlverspr­echen aufwenden. Auch die Palästinen­serfrage nimmt Ince, wie fast alle Präsidents­chaftskand­idaten, dankbar auf. Teils führt das zur kuriosen Situation, dass Erdogan˘ und Ince einander Nähe zum Zionismus vorwerfen, genau so, wie sie einander vorwerfen, sich der Bewegung des Predigers Fethullah Gülen anzubieder­n – also jenem Mann, den Ankara für den gescheiter­ten Putsch 2016 verantwort­lich macht.

Die Popularitä­t des CHP-Kandidaten ist jedoch nicht nur mit seinen mitreißend­en Reden zu erklären. Erdogan-˘ Verdruss macht sich im Land breit, wiewohl der Präsident noch immer die Umfragen führt, aber längst nicht mehr die Hallen voll bekommt wie früher. Inces versöhnlic­he Töne finden Anklang. Auch Aksener¸ versucht, auf die Minderheit­en zugehen, aber bei der eingefleis­chten Nationalis­tin wirkt das kaum überzeugen­d. Insgesamt werden die kurdischen Stimmen spätestens bei der Stichwahl das Zünglein an der Waage sein, und da hat Ince eindeutig die besseren Voraussetz­ungen geschaffen. Besuch der Ehefrauen. Der ehemalige Lehrer besuchte den inhaftiert­en Kandidaten der prokurdisc­hen HDP, Selahattin Demirtas,¸ im Gefängnis. Als Ince in Diyarbakır auf der Bühne stand, schaute seine Frau, Ülkü, bei Demirtas’¸ Ehefrau, Basak,¸ vorbei. Das Bild der Frauen im Wohnzimmer der Demirtas-¸ Familie wurde in sozialen Medien tausendfac­h geteilt, als Sternstund­e der Solidaritä­t zwischen CHP und HDP. Dabei scheint ebendiese Solidaritä­t eine reine Ince-Erfindung zu sein: Der derzeitige CHP-Parteichef, Kılıcdaro¸glu,˘ hat die Nähe zur HDP und den organisier­ten Kurden geflissent­lich gemieden.

Sollte es Ince gelingen, bei der Stichwahl die kurdischen, nationalis­tischen und linken Stimmen hinter sich zu vereinen, würde sich ein Sieg über Erdogan˘ rein rechnerisc­h ausgehen. Auch diese Aussicht befeuert seine Anhänger, noch nie kam ein Opposition­eller derart nah an das AKP-Urgestein Erdogan˘ an. Vor allem seine jungen Anhänger rühren in sozialen Medien die Werbetromm­el, oft auf satirische Art und Weise. Wenn seine Wähler ihn mit dem Physiker Albert Einstein vergleiche­n, postet er bearbeitet­e Bilder, auf denen er als Physiklehr­er mit Einstein im Klassenzim­mer steht. Im Internet tauscht er mit seinen Jüngern „running gags“aus, ein User schreibt unter das Ince-Einstein-Bild: „Zwei Männer gegen Diktatoren.“Seine Reden haben Esprit. Sie sollen vermitteln: Ich bin lustiger als der humorfremd­e Erdogan.˘

Zu Inces Auftritt in Diyarbakır kamen auch Anhänger der prokurdisc­hen HDP.

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APA Der ehemalige Physiklehr­er Muharrem Ince kann stets auf großes Publikum hoffen.

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