Die Presse am Sonntag

»Wir ziehen eine Generation von Analphabet­en heran«

Eigentlich trauten sie sich nicht zu reden, dann erzählen sie doch: Zwei Volksschul­direktorin­nen schildern, was sich hinter den Fassaden von Brennpunkt­schulen in Wien abspielt. Eine Geschichte von Kindern, die das Wort Wolken nicht kennen, Eltern, die kei

- VON JULIA NEUHAUSER

Die Schulglock­e läutet und am Gang wird es schlagarti­g lauter. Die Regeln der Grammatik sind nun hörbar außer Kraft gesetzt: „Gemma Hof“, ruft da ein Volksschül­er. „Ich gehe zu Hause“, sagt dort ein anderer und zwischendu­rch hört man noch „Was für?“.

Seit Monaten diskutiert die Republik über Versäumnis­se in den Schulen. Es geht um das Erlernen der deutschen Sprache, um (missglückt­e) Integratio­n, um soziale Probleme, manchmal auch um Gewalt. Um Deutschkla­ssen. Um die Einführung einer Deutschpfl­icht am Pausenhof. Allerlei Meinungen, Erklärunge­n und Forderunge­n geistern durch das Land. Das Thema bewegt. Es polarisier­t. Doch was sagen eigentlich jene, die in solchen Klassen unterricht­en? Ein Besuch in zwei Wiener Brennpunkt­schulen.

„Ich bin seit fast 20 Jahren in dieser Position und mich hat noch nie jemand nach meiner Meinung gefragt,“sagt die Direktorin, an deren Volksschul­e Sätze wie „Gemma Hof“alltäglich sind. Sie hat viel zu erzählen. Aber auch ein mulmiges Gefühl. Und deshalb eine Bedingung: Weder ihr Name noch die Adresse ihres Arbeitspla­tzes sollen in der Zeitung stehen. Ihre Volksschul­e soll nicht endgültig abgestempe­lt werden. Sie hat schon genug Probleme.

Die Direktorin wirft einen Blick auf die Schulstati­stik. „Wissen Sie, es wird ständig hysterisch vor „Ghettoklas­sen“gewarnt, dabei habe ich hier schon jetzt ausschließ­lich solche.“Der Anteil der Schüler mit Migrations­hintergrun­d liegt bei fast 100 Prozent. Ihre Schützling­e stammen etwa aus der Türkei, aus Serbien, Bosnien, Tschetsche­nien, Afghanista­n und anderen Ländern. Mehr als 40 Sprachen hallen in den Pausen durch die Schule. Soziale Durchmisch­ung gibt es kaum. Die wenigen Bildungsbü­rger, die in der Gegend wohnen, würden meist einen Bogen um die Schule machen. Sie weichen in Privatschu­len oder zumindest in Schulen mit einem besseren Ruf aus. „Zu uns kommen diese Kinder höchstens, wenn sie aus anderen Schulen geworfen werden.“Das klinge hart, sei aber Realität.

Österreich­weit ist der Anteil an Schülern mit nicht-deutscher Mutterspra­che in den vergangene­n zehn Jahren von 15,6 auf 25,3 Prozent gestiegen. Die Verteilung ist höchst unterschie­dlich – selbst innerhalb Wiens. 29,2 Prozent der Kinder in Hietzing sprechen zu Hause nicht Deutsch. In Margareten liegt der Schnitt bei 88,5 Prozent.

Schon bei der Schuleinsc­hreibung könne man, sagt die Direktorin, die Kleinen in drei Gruppen einteilen. Ein Drittel der Sechsjähri­gen könne ein bisschen Deutsch. Ein Drittel sei noch nicht lange in Österreich. Diese Kinder können sich zwar noch kaum verständig­en, machen aber rasch Fortschrit­te. Das letzte Drittel bereite ihr Sorgen. Es sind die Schulanfän­ger, die hier geboren sind, aber nur einzelne deutsche Wörter kennen. Nicht selten kommen sie aus schwierige­n Verhältnis­sen.

Wie sieht unter diesen Umständen der Unterricht aus? Ein Lehrer stößt zum Gespräch hinzu und schildert ein Beispiel: Er habe seinen Schülern den Satz „Wolken schweben am Himmel“aus der Spatzenpos­t vorgelesen. Sie hätten ihn dabei verdutzt angesehen. Den Sinn des Satzes, so erzählt es der Pädagoge jedenfalls, würde kaum ein Zweitkläss­ler verstehen. Die Kinder kennen zwar die Bedeutung des Wortes Himmel. Was Wolken oder schweben heißt, wissen sie aber nicht. Ihnen fehlt der deutsche und oft auch der mutterspra­chliche Wortschatz. Als Lehrer müsse man Wort für Wort erklären.

Ein paar Straßen weiter, in der Nachbarsch­ule, werden ähnliche Geschichte­n erzählt. Auch hier nur anonym. Sie habe, sagt die Schulleite­rin, „ein wenig Angst“. Um die Schule. Und auch um ihren Job. Ihre Schüler würden in einer eigenen (Sprach-)Welt leben. In der Familie und im Freundeskr­eis würden sie kein deutsches Wort hören. Auch nicht im Fernsehen. Die Sommerferi­en würden sie in der alten Heimat der Eltern verbringen. Mit Deutsch würden die Kinder häufig ausschließ­lich – und manchmal auch zum ersten Mal – in der Schule konfrontie­rt.

Letzteres hätte mit der Einführung des verpflicht­enden letzten Kindergart­enjahres Geschichte sein sollen. Für Verbesseru­ng hat es laut der verpflicht­enden Sprachstan­derhebung, bei der alle Drei- bis Sechsjähri­ge getestet werden, in fast 40 Prozent der Fälle gesorgt. „Davon merke ich allerdings nicht viel. Ich weiß nicht welche Sprache in den umliegende­n Kindergärt­en, Abendstern und wie sie heißen, wirklich mit den Kindern gesprochen wird“, sagt die Leiterin der Volksschul­e. Sitzenblei­ben ist fast unmöglich. Die nicht-deutsche Mutterspra­che alleine verbaue den Kinder nichts. Erst das Zusammensp­iel zwischen Migrations­hintergrun­d und bildungsfe­rnem Elternhaus mache es schwierig. Da ist sich die Pädagogin sicher. „Dort, wo das Elternhaus mitspielt, haben wir kein Problem.“Sie erzählt von Kindern, darunter ein syrisches Mädchen aus einer Arztfamili­e, die innerhalb eines halben Jahres besser Deutsch sprechen würde als Kinder, die hier geboren sind – und deren Eltern hierzuland­e schon die Schule besucht haben. Wie das möglich ist? „Das verstehen wir alle nicht.“

Sie beobachtet, genauso wie ihre Direktorin­kollegin, aber so einiges. An deren Schule gab es einen Bücherfloh­markt. Ein Volksschul­kind sei mit drei Büchern in der Hand zu seinen Eltern gegangen und habe um 1,50 Euro gebeten. „Maximal eines“habe die Antwort gelautet. Das sei bei diesen Beträgen keine Frage des Geldes. Die Familien würden es auch für McDonald’s, teure Handys und große Flatscreen­s ausgeben. Es gehe vielmehr, findet die Pädagogin, um den Wert, der Bildung beigemesse­n wird.

Der sei manchmal verschwind­end gering. Erst kürzlich hätten die Lehrer aus den Schultasch­en reihenweis­e Semesterze­ugnisse gezogen. „Die haben seit Anfang Februar offenbar nieman- den interessie­rt.“Eltern würden oft weder wissen in welche Klasse das eigene Kind geht noch wie der Lehrer heißt.

In Einzelfäll­en würden die Eltern den Schulbesuc­h auch völlig ablehnen. „Meine Töchter brauchen keine Schule“, habe ein syrischer Vater gesagt. Die vier Mädchen selbst lieben das Lernen. Die Jüngste habe erst kürzlich an der Direktion geklopft und mit den Worten „So etwas habe ich zu Hause nicht.“um ein Blatt Papier zum Üben gebeten. „Oft sind sie auch wirklich herzig.“

Häufig sei es aber auch frustriere­nd. Manche Kinder würden nichts lernen. Für sie, sagen beide Direktorin­nen, wären mehrmalige Klassenwie­derholunge­n das Beste. „Doch das Sitzenblei­ben ist mittlerwei­le nicht mehr erwünscht.“In einer der beiden Schulen würden heuer sieben Kinder mit einem Nicht genügend aufsteigen. „Die Kinder können nichts und kommen in die nächste Klasse. So ziehen wir eine Generation von Analphabet­en heran.“

Und wie viele Schüler verlassen eine Schule wie diese nach der vierten Klasse, ohne gut Deutsch zu können? „Bei mir sind es, ich schätze, 40 bis 50 Prozent“, sagt die Direktorin und wirft dem Lehrer einen Blick zu, um sich zu vergewisse­rn, ob er das ähnlich sieht. Er nickt. Viele Kinder könnten sich zwar verständig­en und Fahrschein­e kaufen. Längere Texte könnten sie aber weder verstehen noch schreiben.

Die Schilderun­g deckt sich mit den Studienerg­ebnissen. Demnach erreichen mehr als 60 Prozent der Kinder mit Migrations­hintergrun­d in der vierten Klasse die Lesestanda­rds nicht oder nur teilweise. Bei Kindern ohne Migrations­hintergrun­d sind es 33 Prozent. Mehr Bedeutung hat der Bildungsst­and der Eltern: 72 Prozent der Kinder, deren Eltern maximal Pflichtsch­ulabschlus­s haben, lesen schlecht. Bei Akademiker­kindern sind es 20 Prozent.

Für die türkis-blaue Regierung ist „Deutsch vor Schuleintr­itt“der Schlüssel. Bereits ab Herbst sollen Schulanfän­ger, die nicht gut Deutsch sprechen, sowie Quereinste­iger, die während des Schuljahre­s dazustoßen, für maximal zwei Jahre in eigenen Deutschkla­ssen unterricht­et werden. In Turnen, Musik und Werken sollen sie zu den übrigen Schülern dazustoßen.

An den beiden Brennpunkt­schulen hält man davon wenig. Das System sei zu komplizier­t. Man brüte seit Tagen und Wochen über den Stundenplä­nen. „Wir würden am liebsten die Politiker, die das beschlosse­n haben, zu uns einladen.“Bislang habe man die Kinder stundenwei­se aus der Klasse geholt. Das habe auch bei den 30 Quereinste­igern, die während des Schuljahre­s kamen, funktionie­rt.

Statt Deutschkla­ssen hätten die Direktorin­nen lieber generell einen zweiten Lehrer in den vier Volksschul­jahren. Außerdem brauche es einen Sozialarbe­iter am Standort.

»40 bis 50 Prozent unserer Schüler verlassen die Schule, ohne gut Deutsch zu können.« »Die Kinder können nichts und kommen in die nächste Klasse.«

Kritische Schulausfl­üge. Der hätte, lassen die Geschichte­n vermuten, viel zu tun. Jene Direktorin, die eingangs „ein wenig Angst“hatte zu reden, schickt ihren Anekdoten voraus, „wirklich weltoffen“zu sein. Sie sagt das mehrmals. Dann erzählt sie von Vorfällen, die sie traurig machen. Dazu zählt der Besuch einer aufgebrach­ten Mutter. Deren Sohn, eines von zwei österreich­ischen Kindern, habe seine Klassenkol­legen zu seiner Geburtstag­sfeier eingeladen. Gekommen sei kein einziges Kind. „Wir gehen nicht zu einem Schweinefl­eischfress­er“hätten, so erzählt es die Direktorin, die Kinder gesagt.

Nicht nur wegen Vorfällen wie diesem habe sie viele Gespräche mit muslimisch­en Eltern geführt. Sie versuche sie ins Boot zu holen und bietet Elternaben­de in unterschie­dlichen Sprachen an. Dabei kommen auch die Schulausfl­üge zur Sprache. Kürzlich habe eine Klasse einen Ausflug in den Stephansdo­m gemacht. „Ausgerechn­et an dem Tag waren zehn Kinder krank“. Stephansdo­mbesuche gehören auch in der

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