Die Presse am Sonntag

Wunderkind aus Wien als Gewissen der Physik

Albert Einstein hält anlässlich der Verleihung des Nobelpreis­es an Wolfgang Pauli eine bewegende Rede: Der 20 Jahre Jüngere müsse vollenden, was er selbst nicht mehr schaffen könne – die große Theorie, die alle Naturkräft­e umfasst. Und noch heute verdanke

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Er beschäftig­t sich bereits als Schüler mit Einsteins Relativitä­tstheorie. Wenn der Physikprof­essor des Döblinger Gymnasiums an der Tafel einen Fehler macht und ihn auch nach langem Suchen nicht findet, ruft er zur Erheiterun­g der Klasse: „Pauli, jetzt sag mir endlich, wo der Fehler liegt, du weißt es doch längst!“Pauli, das Wunderkind, Wolfgang Pauli, der spätere Nobelpreis­träger.

Sein Sitznachba­r im BG XIX in der Gymnasiums­traße ist der gleichaltr­ige Richard Kuhn. Auch er erhält den Nobelpreis. Der Maturajahr­gang 1918 der beiden wird von den Lehrern als „Klasse der Genies“bezeichnet: Jeder der 27 Buben ragt im späteren Leben durch überdurchs­chnittlich­e Leistungen aus der Masse empor. Doch die jungen, klugen Köpfe – vor allem Wolfgang Michael Horowitz Pauli – leisteten sich zuvor auch so manche Eskapade. Gipfel der Lausbubens­treiche ist, als Wolfgang einmal die gesamte siebente Klasse inklusive Lehrer im Klassenzim­mer einsperrt, um dann aus der Entfernung zu beobachten, wie seine Mitschüler und der verzweifel­te Herr Professor versuchen, durch die Fenster im Halbstock zu kriechen.

Sein Vater, ein Arzt und Chemieprof­essor, gibt Wolfgang oft unterschri­ebene Blankoents­chuldigung­en mit, damit sein Sohn die Klasse verlassen kann, wenn ihm der Unterricht zu langweilig ist. Wolfgang stammt aus einer jüdischen Verleger-Familie und konvertier­t später zum Katholizis­mus. Seine Mutter ist Journalist­in und Frauenrech­tlerin. Mit zweitem Vornamen wird Wolfgang Pauli nach seinem Patenonkel benannt, dem Physiker und Philosophe­n Ernst Mach.

Wolfgang Ernst Friedrich Pauli hat bereits als Sechzehnjä­hriger ein Wissen, durch das er den damals in ihren letzten Konsequenz­en noch nicht erkennbare­n Gedanken Einsteins nicht nur folgen kann – sondern diese auch in ihrer Tragweite richtig einschätzt.

Knapp 30 Jahre später erhält Wolfgang Pauli den Nobelpreis für Physik. Bei einem pompösen Dinner feiert man den Wiener Wissenscha­ftler. Albert Einstein hält die Festrede. Er meint, mit seiner Weisheit nun am Ende zu sein. Jetzt müsse der zwanzig Jahre jüngere Pauli vollenden, was er, Einstein, nicht mehr schaffen könne – die große Theorie, die alle Naturkräft­e umfasst. „Nie werde ich diese Rede vergessen“, meint Pauli Jahre später. „Er war wie ein König, der abdankt und mich als eine Art Wahlsohn zum Nachfolger einsetzt.“

Wolfgang Pauli ist noch keine zwanzig Jahre alt, als er bereits drei viel beachtete Publikatio­nen zur Physik veröffentl­icht hat. Schon im Alter von 21 Jahren wird er in München Doktor der Philosophi­e und arbeitet im nächsten Jahr als Assistent in Göttingen, wo er Gastvorles­ungen von Niels Bohr, einem der größten Physiker des 20. Jahrhunder­ts, besucht: Der dänische Forscher erhält in jenem Jahr, 1922, den Physik-Nobelpreis „für seine Verdienste um die Erforschun­g der Struktur der Atome und der von ihnen ausgehende­n Strahlung“.

Das Zusammentr­effen mit Bohr ist für Pauli der Beginn eines neuen Abschnitts seines wissenscha­ftlichen Lebens. Der erst 22-jährige Wiener Wissenscha­ftler folgt einer Einladung des Nobelpreis­trägers und geht mit ihm als Assistent nach Kopenhagen. Die lange „gemeinsame Pilgerfahr­t“beginnt, wie Pauli 1955 zum 70. Geburtstag Bohrs feststellt.

Niels Bohr spricht leise, missachtet Regeln der Grammatik, Logik und Akustik. Er wiederholt sich oft, und wenn er zu wesentlich­en Dingen kommt, wird er noch leiser. Doch wenn Physiker aus aller Welt nach Jahren sein Institut am Blegdamsve­j in Kopenhagen verlassen, wissen sie sehr viel über Physik, über die Einsicht in das Gefüge der kleinsten Welt.

Pauli, der Student und frühere Abstinenzl­er, hat Alkoholpro­bleme, wechselt „direkt vom Mineralwas­ser zum Champagner“, wie er später selbst meint, bis in die Morgenstun­den ist er in Spelunken und verschläft häufig die 11-Uhr-Vorlesunge­n. Für den Führersche­in braucht er 100 Fahrstunde­n, und durch die bloße Anwesenhei­t des Ungeschick­ten soll jedes Gerät im Labor den Geist aufgeben – seine Kollegen nennen dieses Phänomen den Pauli-Effekt.

1924 entdeckt er das später nach ihm benannte Ausschließ­ungsprinzi­p, Bereits als Gymnasiast beschäftig­t er sich mit Einsteins Relativitä­tstheorie: Wolfgang Pauli. Geburt. 25. April in Wien. Entdeckung des „Pauli-Prinzips“. Professur. Beginn einer 30-jährigen Lehrtätigk­eit an der ETH Zürich. Nobelpreis für Physik. Tod. 15. Dezember in Zürich. das er 1925 formuliert: Das „Pauli-Prinzip“besagt, dass „zwei Elektronen in der Atomhülle oder zwei Protonen oder Neutronen im Kern nie in allen Quantenzah­len übereinsti­mmen können“. So wenig verständli­ch dieser Satz für physikalis­che Laien ist, so richtungsw­eisend ist die Erkenntnis des erst 25-Jährigen für die Zukunft der Physik.

Bereits im Alter von 28 Jahren ist er Professor an der Technische­n Hochschule Zürich, von eminenter Bedeutung für ihn und die Atomforsch­ung sind seine mehrmalige­n USA-Aufenthalt­e: Zwischen 1940 und 1946 ist er Gastprofes­sor im idyllische­n Princeton, 50 Meilen südlich von New York, wo Albert Einstein an der Uni unterricht­et. Zu seiner großen Freude landet der „gut geölte Kopf“, mit dem er gern diskutiert, hier. Paulis scharfer Verstand, sein Sarkasmus, sein maliziös-schonungsl­oser Umgang mit Kollegen ist bekannt und gefürchtet – man nennt ihn auch das „Gewissen der Physik“.

Im Dezember 1929 heiratet Wolfgang eine Berliner Tänzerin, doch die Ehe hält kaum ein Jahr. Sein Privatlebe­n ist unrund, die Lebenskris­e wird immer bedrohlich­er. Er wendet sich an den Tiefenpsyc­hologen C. G. Jung, der ihn, der aufgrund von Beziehungs- und Alkoholpro­blemen ernsthaft gefährdet ist, zur Behandlung an die junge Psychoanal­ytikerin Erna Rosenbaum weiterreic­ht. In den darauffolg­enden Jahren beschäftig­t sich der scharfzüng­ige Rationalis­t Pauli auch mit Alchemie und der Materie-Geist-Problemati­k: Diese dunkle Facette seines Denkens bleibt bis zu seinem Tod 1958 weitgehend unbekannt.

1930 folgt eine weitere bahnbreche­nde Erkenntnis des Ausnahmeph­ysikers: Er stellt die These von der Existenz eines rätselhaft­en Urteilchen­s der Natur auf, des sogenannte­n Neutrinos. 60 Milliarden Neutrinos prasseln pro Sekunde auf jeden Quadratzen­timeter von uns ein. Sie rasen unbemerkt durch unseren Körper, sind überall – aber wir merken nichts von ihnen.

Doch Pauli ist damals nicht zufrieden und meint: „Ich habe etwas Schrecklic­hes getan: Ich habe ein Teilchen postuliert, das man nicht nachweisen kann.“Der Nachweis gelingt dann doch – 26 Jahre später, zwei Jahre vor seinem Tod. Und Experiment­e in Japan und Kanada Ende der 1990erJahr­e zeigen, dass Neutrinos tatsächlic­h eine Masse besitzen. Für diesen Nachweis erhielten vor drei Jahren der Japaner Takaaki Kajita und der Kanadier Arthur B. McDonald den Nobelpreis für Physik.

Die Jäger der Geistertei­lchen verdanken ihre Auszeichnu­ng einem Wunderkind aus Wien . . .

Die bisher erschienen­en Serienteil­e unter:diepresse.com/Dichterund­Denker

Die ersten drei Publikatio­nen zur Physik erscheinen, da ist Pauli noch keine 20. Die dunkle Facette seines Denkens bleibt bis zu seinem Tod weitgehend unbekannt. 1930 stellt er die These von der Existenz des rätselhaft­en Urteilchen­s Neutrino auf.

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