Die Presse am Sonntag

Lassen wir unsere Kinder falsch im Auto sitzen?

In Schweden sitzen nicht nur Babys, sondern auch kleine Kinder verkehrt zur Fahrtricht­ung – weil erwiesen ist, dass dies das Verletzung­srisiko bei Unfällen drastisch senkt. Eine Volvo-Ingenieuri­n kämpft seit Jahren entschloss­en dafür, dass der Rest der We

- VON TIMO VÖLKER

So ein Kindersitz ist ein klobiges Ding, oft sperrig in der Handhabung, aber die quietschbu­nt bezogene Konstrukti­on aus Hartplasti­k und Schaumstof­f macht einen robusten Eindruck, und sie gibt Eltern das gute Gefühl, den Nachwuchs in Sicherheit zu wissen. Man hat bei der Anschaffun­g auf Prüfsiegel geachtet, Vergleichs­tests vom Konsumente­nschutz studiert und nicht zum billigsten Modell gegriffen. Und dann kommt eine wie Lotta Jakobsson und erklärt, dass dies alles nicht reicht.

Was Zahlen und Worte nur annähernd vermitteln, schaffen Filmaufnah­men aus dem Crashtestl­abor spielend: ein mulmiges Gefühl in der Magengrube hervorzuru­fen. Wir sehen einen Hightech-Dummy in der Größe eines zwei- bis dreijährig­en Kindes, der, korrekt im Kindersitz adjustiert, einem massiven Frontalauf­prall ausgesetzt wird, der häufigsten Unfallart. In Zeitlupe. „Kinder sind keine kleinen Erwachsene­n“, pflegt Lotta Jakobsson an der Stelle zu sagen, „ihr Kopf ist im Vergleich zum Körper überpropor­tional groß und schwer.“

Das Knorpelgew­ebe sei zudem noch weich, die Halswirbel nicht vollständi­g ausgebilde­t, sie sind flach und horizontal bewegliche­r als beim Erwachsene­n. Mit dramatisch­en Folgen beim Crash, wie die Zeitlupena­ufnahmen vorführen: Kopf und Gliedmaßen werden nach vorn geschleude­rt, die Halswirbel­säule überdehnt und regelrecht abgeknickt.

Jakobsson, bei Volvo in einem 100-köpfigen Team für Insassensi­cherheit zuständig, weiß gar nicht mehr, wie oft sie Vorträge wie diesen gehalten hat, die verstörend­en Filme gezeigt hat. Sicher Hunderte Male, schätzt sie.

Es brauchte gar nicht die Flut der erfassten, mitgeliefe­rten Sensordate­n, um zu erkennen: ein potenziell tödliches Szenario. Und auch der beste Kin-

Lotta Jakobsson, 52,

leitet die Abteilung für Verletzung­svermeidun­g beim schwedisch­en Autoherste­ller Volvo in Göteborg.

Für ihre Arbeiten

wurde Jakobsson vielfach ausgezeich­net. Die promoviert­e Maschinenb­auerin hält seit 2010 eine Professur an der Chalmers-Universitä­t Göteborg. Designkonz­ept: Luxus und Kindersich­erheit für den chinesisch­en Markt. dersitz, so wie in unseren Breiten verwendet, würde daran nichts ändern.

Unsere Breiten, das heißt: die ganze Welt mit Ausnahme der nordischen Länder, allen voran Schweden, wo man seit Jahrzehnte­n eigene, ganz andere Wege geht. Denn in dem Land sitzen nicht nur Babys bis 15 Monaten entgegenge­setzt zur Fahrtricht­ung – mittlerwei­le EU-weit verpflicht­end, auch dies ein Erfolg schwedisch­er Überzeugun­gsarbeit auf dem Gebiet –, sondern auch Kleinkinde­r bis zum Alter von vier, fünf, manchmal sechs Jahren.

Denn der einzig wirksame Schutz der Wirbelsäul­e bei einem Frontalauf­prall besteht darin, die einwirkend­e Energie großflächi­g zu verteilen – über Hinterkopf und Rücken in die gepolstert­e Sitzfläche. Das geht naturgemäß nur, wenn man mit dem Rücken zur Fahrt sitzt. Sitzen jetzt wir verkehrt oder die Schweden? Hieb- und stichfest. Warum Sicherheit­sstandards in skandinavi­schen Ländern grundsätzl­ich höher sind als anderswo, das zu klären ist ein weites Feld. Fest steht, dass die Gebote des Staates im Norden eher angenommen werden, dass Nonchalanc­e in Sicherheit­sfragen kein hohes gesellscha­ftliches Ansehen genießt – man fühlt sich auch nicht unterjocht, wenn man Tempolimit­s einhält –, und dass man geneigt ist, aus wissenscha­ftlichen Erkenntnis­sen konkrete Handlungen abzuleiten. Denn dass der verkehrt montierte Kindersitz – eben nicht nur bei Babys, sondern auch bei Kleinkinde­rn – signifikan­t sicherer ist, stellt auf der ganzen Welt niemand infrage. Die Sache ist hieb- und stichfest geklärt, was wiederum schwedisch­er Forschung zu verdanken ist.

Schon in den 1960er-Jahren, als selbst konvention­elle Ausführung­en bei uns kaum bekannt oder in Gebrauch waren, tüftelten schwedisch­e Ingenieure in Universitä­tsprojekte­n an entgegen zur Fahrtricht­ung montierten Kindersitz­en. Die Autos, die dabei gegen die Wand gefahren wurden, stellte Volvo zur Verfügung, ein Hersteller, der sich bereits einiger Innovation­en auf dem Sicherheit­sgebiet rühmte (den Dreipunktg­urt, wie heute gebräuch-

Babys müssen verkehrt zur Fahrtricht­ung transporti­ert werden: »Ein Teilerfolg.«

lich, präsentier­te Volvo 1959). Der erste Prototyp eines solchen Sitzes wurde 1964 getestet.

Mit den Erkenntnis­sen kam es über die Jahre zu den ersten alltagstau­glichen Produkten und schrittwei­se zum Einzug in die Autos der Schweden. Eine Untersuchu­ng aus dem Jahr 2016 belegte die Verwendung von rückwärts gerichtete­n Kindersitz­en bei Zwei- bis Dreijährig­en zu 77 Prozent (diese Zahl liege nun bereits bei 81 Prozent, sagt Jakobsson). Bei den bis zu Zweijährig­en waren es 98 Prozent. Markanter Vergleich zu Deutschlan­d: Dort springt die Zahl der tödlich verletzten Einjährige­n im Auto abrupt in die Höhe, während sie in Schweden bei null liegt (Zeitraum: 2006 – 2011). Seekrank. Laut Jakobsson ist das darauf zurückzufü­hren, dass Einjährige, sobald es gesetzlich zulässig ist, in Deutschlan­d schnell in Fahrtricht­ung umgesetzt werden. Die Sterberate bleibt über die Lebensjahr­e zwei bis vier markant höher als in Schweden (für Österreich liegen hierzu keine Zahlen vor). Die deutsche Stiftung Warentest stellte 2007 fest, dass die Belastung der Halswirbel­säule bei Kleinkinde­rn beim Sitzen in Fahrtricht­ung doppelt so hoch oder höher ist als beim „verkehrten“Sitzen.

Was hindert uns also, es den Schweden einfach nachzumach­en?

Die spontanen Argumente dagegen kennt Lotta Jakobsson nur zu gut. Erstens: „Ich bin als Kind in einem rückwärts gerichtete­n Sitz aufgewachs­en, und

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