Visionär mit Langzeitperspektive
Seit zwölf Jahren betreut Joachim Löw das deutsche Team. Sein Masterplan ist flexibler geworden, mit der eigenen Bekanntheit hat er sich arrangiert.
Die grauen Haare sind ein bisschen mehr geworden. Sonst hat sich Joachim Löw im Laufe der Jahre an der Seitenlinie kaum verändert. Im Moskauer Luschniki-Stadion wird er heute bei Deutschlands Eröffnungsspiel gegen Mexiko zum 32. Mal bei einer WM oder EM an der Seitenlinie stehen und damit vor dem Brasilianer Luiz Felipe Scolari (31) zum alleinigen Rekordhalter aufsteigen. Für den 58-Jährigen ist es das sechste Großereignis, das haben zuvor nur Helmut Schön und Carlos Alberto Parreira geschafft. Ersterer war von 1964 bis Cordoba´ 1978 deutscher Chefcoach und hält mit 25 WM-Spielen den Rekord. Löw steht vor dem Turnier in Russland bei 14 Partien, in Katar 2022 – so lange läuft sein Vertrag – könnte er auch diese Bestmarke einstellen, entsprechende Erfolge vorausgesetzt.
Seit Juli 2006 ist Löw oberster Fußballlehrer beim deutschen FußballBund, er trat die Nachfolge von Jürgen Klinsmann an, dem er bei der HeimWM als strategisches Mastermind zur Seite gestanden war. Dass der Mann aus dem Schwarzwald zwölf Jahre später den Weltmeister trainiert, hat Anfang des Jahrtausends in Österreich noch niemand geahnt. 2003 führte Löw den insolventen FC Tirol zum Titel und musste monatelang auf sein Gehalt warten. Im Frühjahr 2004 wurde er von Austria-Mäzen Frank Stronach trotz Tabellenführung beurlaubt. Natürlich seien dies persönliche Enttäuschungen gewesen, aber „die Zeit in Innsbruck und Wien war sehr lehrreich für mich als junger Trainer“, erinnerte sich Löw. Gut bezahlte Kontinuität. Von den 32 Teamchefs bei dieser WM-Endrunde ist Löw am zweitlängsten im Amt, einzig scar Tabarez´ betreut Uruguay seit Februar 2006 und damit fünf Monate länger. Die Schnelllebigkeit im Weltfußball hat längst auch die Nationalteams erreicht, neben dem Duo waren in Brasilien vor vier Jahren nur noch Didier Deschamps (Frankreich), Carlos Queiroz (Iran) und Jose´ Pekerman´ (Ko- lumbien) bereits dabei. Mit einem Jahresgehalt von 4,6 Millionen Euro ist der DFB-Teamchef auch Topverdiener vor Brasiliens Tite und Deschamps (4,2), Schlusslicht des Rankings ist Senegals Aliou Cisse´ mit 198.000 Euro.
Motivation und Ehrgeiz hat Löw auch nach zwölf Jahren im Amt nicht verloren, die kontinuierliche Weiterentwicklung – auch von sich selbst – ist oberste Prämisse. „Ich möchte mich jetzt schon auf das vorbereiten, was morgen auf mich zukommt, und frage mich, wo der Trend in ein paar Jahren hingeht“, erklärte der selbst titulierte Visionär im Interview mit dem „Kicker“. Im Gegensatz zu früher halte er nicht mehr stur an einem Masterplan fest, sondern reagiere spontan und intuitiv auf Entwicklungen. „Ich gebe mir heute mehr Spielraum.“
Das Erfolgsrezept liegt für den ExProfi, dem ein Nationalteameinsatz verwehrt blieb, in der Liebe zum Detail („Wenn wir Details nicht ernst nehmen, sind wir nur eine durchschnittliche Mannschaft“) und in der Zusammenstellung des Teams. „Man braucht Kommunikation und Führungspersönlichkeiten, die das große Ganze im Auge behalten“, erklärte Löw. Nur wenn sich jeder Spieler seiner Aufgabe gewachsen fühlt und ein klares Ziel vor Augen hat, könnten sich in einer Mannschaft Dynamik und Teamgeist entwickeln. Stets betont er auch die Bedeutung der Ersatzspieler. „Für manch einen bleibt bei der WM nur ein Moment – aber dann muss er auf den Punkt genau seine Leistung abrufen.“ Ausrutscher mit Kultfaktor. Die Marke Löw steht inzwischen längst für mehr als Fußball, auch ihn als Person umgibt ein gewisser Kultfaktor. Ob Rollkragen, Kaschmirpullover oder legeres T-Shirt – der 58-Jährige setzt abgesehen von seiner über die Jahre unveränderten Frisur Modetrends. Peinliche Ausrutscher wie der Nasenbohrer samt Verzehr des Fundes bei der WM 2010, der Griff in den Schritt (2014) bzw. die Pofalte (2016) mit anschließender Geruchsprobe trugen zur Bekanntheit bei. „Man ist voller Adrenalin, die Dinge kann man gar nicht bewusst wahrnehmen“, erklärte er die Szenen. Weit über seinen Heimatort Au-Wittnau bei Freiburg hinaus wird Löw auf der Straße erkannt, nicht zu seiner Freude. „Manchmal würde ich mir mehr Privatsphäre wünschen und ein wenig mehr Frei- raum. Ich ziehe mich mehr zurück als früher“, gestand er. Von seinem Privatleben dringt wenig an die Öffentlichkeit, 2016 trennte er sich nach 30 Ehejahren von Gattin Daniela. Während Großereignissen lebe er aber ohnehin in seiner eigenen Welt, versuche er keine Ablenkung zuzulassen.
In Russland wartet auf Löw und das deutsche Team die schwierige Mission Titelverteidigung, die erst zweimal in der WM-Geschichte (Italien 1934/1938, Brasilien 1958/1962) gelungen ist. Auftaktgegner Mexiko sollte schon aus statistischen Gründen kein Stolperstein werden, unter dem aktuellen Teamchef ist das DFB-Team seit der EM 2008 stets siegreich in ein Turnier gestartet (Torverhältnis 13:0). Auf Spielerseiten ist zehn Jahre später nur noch Stürmer Mario Gomez´ mit von der Partie, das Herz ist die Weltmeister-Achse von 2014 um den rechtzeitig fit gewordenen Torhüter Manuel Neuer. „Das Gerüst ist sehr stabil, sehr erfahren und unheimlich fokussiert“, schwärmte Löw und sieht seine Mannschaft gerüstet. „Wir haben so viel Kraft im Spiel nach vorn. Wenn wir konsequent sind, wird es für jeden Gegner schwer, gegen uns zu verteidigen.“