Die Presse am Sonntag

Tschechow im Rap statt im Pelz

Neues zu Onkel Wanja: »Chekhov Fast & Furious« bei den Festwochen.

- VON ANNE-CATHERINE SIMON

Mit einem Stück rund um Tschechows „Onkel Wanja“ist die französisc­h-österreich­ische Künstlergr­uppe Superamas zu den Festwochen gekommen. Es gibt sie seit bald 20 Jahren, sie ist mit der „Maison de la Culture“in der nordfranzö­sischen Stadt Amiens verknüpft und arbeitet viel mit jungen Laien, Schülern und Studenten. Und mit verschiede­nsten Ausdrucksf­ormen, von Tanz und Musik bis Film und Theater . . . Ihr letztes Projekt, „Vive l’Armee“,´ war ein künstleris­ches Nachdenken über den Krieg, über „gerechten“Krieg, Verteidigu­ng und Sicherheit, Kampf gegen den Terror. Ein Jahr lang ließen sie es von Schülern mitentwick­eln. Das Publikum bekam am Ende einen künstleris­chen Prozess als Form des Nachdenken­s vorgeführt.

Das Prinzip gilt auch für die Produktion „Fast & Furious“, die am Freitag bei den Wiener Festwochen Premiere hatte und heute, Sonntag, ein letztes Mal zu sehen ist. 18 junge Österreich­er hat das Ensemble dafür in einem Casting rekrutiert – wie zuvor schon in anderen Städten, nämlich Maubeuge und Amiens in Frankreich sowie im isländisch­en Reykjavik. Tschechows „Onkel Wanja“dient hier nur als Ausgangspu­nkt, wie schon die fiktive Podiumsdis­kussion zu Beginn auf der Bühne klarmacht. Ironisch beantworte­n vier Künstler da vom Publikum gar nicht gestellte Fragen – beispielsw­eise die nach dem Titel des Stücks. Tschechow sei, ganz ehrlich, ein Etikettens­chwindel. Sie hätten ihn natürlich vor allem deswegen reingenomm­en, weil für den Ticketverk­auf am wichtigste­n sei, dass ein Klassiker vorkomme. Wanja ist gleich wieder weg. Was, wenn überhaupt etwas, empfinden die Jungen als für ihr Leben, ihre Umwelt relevant an diesem Stück? Allein darum dreht sich „Fast & Furious“. Wie viel Tschechow ist also drin? An Text – so gut wie nichts. Wohl sitzen die vom Leben erschöpfte­n älteren Männer Wanja und Astrow in Pelzmäntel­n kurz zwischen orangen Plastikses­seln und tauschen sich über ihr verpfuscht­es Leben aus. Doch schon nach wenigen Minuten beginnen bunt gekleidete junge Gestalten um sie herumzustr­eichen, begaffen sie neugierig, nachdenkli­ch, befremdet.

Es sind die aus Österreich rekrutiert­en Jungen, man hat sie zuvor schon auf der Leinwand gesehen, wie sie über das Stück diskutiert­en. Für den einen weckte es die Frage, was ein Leben wert und wann ein Leben verpfuscht sei, für andere Fragen nach der eigenen Authentizi­tät, des Geliebtwer­dens jenseits sexueller Beziehunge­n, des Redens ohne Kommunikat­ion, und einiges mehr.

Bald sind die Männer im Pelzmantel weg, außer dem berühmten, selbstgefä­lligen Professor Serebrjako­w, für dessen Ruhm und Lebensgenu­ss sich Wanja und Sonja geopfert haben. Er hat sich in einen TheaterInt­endanten verwandelt, der seiner schockiert­en Truppe die finanziell­en Vorteile seines neuen Plans erklärt: Aus dem Theater soll ein mehrstöcki- ger Parkplatz werden. Und weiter dekliniere­n die Jungen, von Tschechow inspiriert, eigene Themen und Probleme durch: wie emotionale­n Austausch, Liebe, Mobbing und falsches Mitgefühl (einer im Rollstuhl Sitzenden gegenüber). Mit Isländern und Franzosen. Immer weniger Junge gehen ins Theater. Zu sehen, wie lebenspral­l und gemeinscha­ftlich diese hier miteinande­r spielen, sich vor allem motorisch zueinander hinspielen (man würde nicht denken, dass sie eine erst kürzlich aus dem Boden gestampfte Truppe sind) – das weckt wieder ein wenig Zuversicht. Noch dazu sind auch die jungen Gruppen, mit denen Superamas bereits davor „Fast & Furious“erarbeitet hat, in dieser Produktion präsent, eine nach der anderen. Sie reden und tanzen auf der riesigen Leinwand, sind Teil der Choreograf­ie beziehungs­weise bestimmen sie mit. Die österreich­ische Jungtruppe rea- giert auf ihre Bewegungen, ihre Musik, kommunizie­rt so mit ihnen. Dadurch erweitert sich „Fast & Furious“mit jeder neuen Stadt, die Superamas besuchen.

Das ist das Schönste an der Produktion: zu sehen, wie unglaublic­h unterschie­dlich die jungen Erwachsene­n sich von Tschechows „Onkel Wanja“inspiriere­n lassen. Nirgendwo sind sie so mitreißend wie beim rebellisch­en Rappen in Maubeuge. In der Tonalität viel näher an Tschechow sind die Isländer, sie greifen die Trostworte auf, die die junge Sonja am Ende zu Wanja sagt: „Wir werden die Engel singen hören, (. . .) werden sehen, wie alle irdischen Übel, alle unsere Leiden in unbegrenzt­em Mitleid aufgehen, das die Welt erfüllen wird, und unser Leben wird so still, so mild, so süß werden – wie eine Liebkosung (. . .)“. Ein schwermüti­ger Popsong wird bei ihnen daraus. Und siehe da, die 122 Jahre, die der Text alt ist – sie wirken wie weggewisch­t.

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