IN ZAHLEN
Zwischen 1958 und 1962 forderte die Große Hungersnot in China mindestens 45 Millionen Menschenleben. Die Toten waren der Preis für die kommunistischen Utopien von Staatsgründer Mao Zedong. Mit dem »Großen Sprung nach vorn« wollte er den Westen in wenigen
Wanli war wie eine Geisterstadt“, schreibt Yang Jisheng. Der Teich trockengelegt, die Ulme vor dem Haus ein rindenloser Rumpf. Kein Hundegebell war zu hören, keine Hühner waren zu sehen.
Noch desolater als seinen Heimatort in der Provinz Hubei fand der junge Mann seinen Vater vor. „Er war halb auf sein Bett gelehnt, seine Augen eingesunken und leblos. Sein Gesicht ausgemergelt, die Haut knittrig und erschlafft“, schreibt der Journalist in seinem Buch „Grabstein“. „Ich war schockiert, dass der Ausdruck Haut und Knochen etwas so Schreckliches und Grausames beschreibt.“
Drei Tage später war Yangs Vater tot, verhungert in den Armen seines Sohnes. Im April 1959 erlebte Yang die Folgen einer massenmörderischen Vision Mao Zedongs, die der Welt die Stärke Chinas – und Genie und Unfehlbarkeit des Großen Steuermanns – vor Augen führen sollte: der „Große Sprung nach vorn“. Mindestens 45 Mil- lionen Menschen ließen für das Experiment während der damit einhergehenden Großen Hungersnot von 1958 bis 1962 ihr Leben, schätzt der niederländische Historiker Frank Dikötter.
Nach dem Tod von Sowjet-Führer Josef Stalin, mit dem Mao sich stets verglichen hatte, und der Machtübernahme Nikita Chruschtschows 1953 sah der 60-Jährige seine Zeit gekommen: Er wollte dem sozialistischen Lager und parteiinternen Kritikern beweisen, dass er der Mann sei, der den Kapitalismus in die Knie zwingen, die Unterschiede zwischen Stadt und Land, geistiger und körperlicher Arbeit beseitigen könne. Er würde das bitterarme China in eine moderne kommunistische Gesellschaft transformieren.
Durch den Erfolg des sowjetischen Raumfahrtprogramms angestachelt, feuerte Mao im November 1957 in Moskau den Startschuss für den „Großen Sprung“: „Kamerad Chruschtschow meint, die Sowjetunion werde die USA in 15 Jahren überholen. Ich kann euch sagen, dass wir in 15 Jahren Großbritannien überholt haben.“So mobilisierte Mao die Massen, Chinas größtes Kapital, um das Land fit für die radikale
Millionen Tonnen
Getreide ernteten Chinas Bauern 1958 – so schönten die Lokalbeamten im Quotenfieber die Zahlen. In Wahrheit waren es nur knapp mehr als 200 Millionen Tonnen.
Prozent der Häuser
in China wurden während des „Großen Sprungs“zerstört: Sie wurden zu Dünger verarbeitet, mussten Straßen und Kantinen weichen.
Millionen Bauern
zogen allein 1958 aus Hoffnung auf Arbeit in Städte. Als sich der Hunger zuspitzte, wurden sie gewaltvoll in ihre Heimat zurückgetrieben, um die Versorgung der Städte zu sichern.
Millionen Menschen
sollen während des „Großen Sprungs“pro Jahr in Arbeits- und Umerziehungslagern inhaftiert worden sein, schätzt der Historiker Dikötter. Drei Millionen davon starben an Seuchen und Hunger. Industrialisierung zu machen: Mit pharaonischen Staudamm- und Bewässerungsprojekten sollten die Naturgewalten gebändigt werden, um Erträge auf nie dagewesene Höhen zu steigern. Bis Jänner 1958 grub jeder sechste Mensch in China irgendwo Boden um. Die Tonnen umgepflügter Erde wurden zur Leitzahl des Erfolgs – ungeachtet der verheerenden Auswirkungen des Dilettantismus auf Wälder und Gewässer.
Das Quotenfieber erfasste das gesamte Land. Das Buhlen um Pekings Anerkennung ließ Lokalverantwortliche immer irrwitzigere Ziele versprechen. „Eine Sputnik starten“hieß das Erreichen einer neuen Höchstleistung im Parteijargon. Dazu war jedes Mittel recht: Dorfbewohner zerstörten ihre Häuser, um aus dem Lehm und Stroh Dünger für die Felder herzustellen. Im Irrglauben, es könne den Ertrag steigern, ordneten Beamte an, kiloweise Samen auf die Felder zu streuen.
Doch der Schlüssel für den Wiederaufstieg Chinas lag für den stahlbesessenen Mao in den kleinen Hochöfen in den Hinterhöfen des Landes. Parteileute zogen von Haus zu Haus und sammelten alles, was sich einschmelzen ließ, selbst Haushaltsartikel und Ackerwerkzeuge. Am Ende bekam die Führung ihren Rekord – zumindest auf dem Papier: Ein Großteil des eingeschmolzenen Metalls war nutzlos.
»Mao mobilisierte die Massen, Chinas größtes Kapital, für die radikale Industrialisierung.«
Riesiges Bootcamp. Im August 1958 hob Mao den „Großen Sprung“mit der Kollektivierung auf eine neue Ebene: Die Verwirklichung des Kommunismus vermeintlich in Reichweite, schafften Modellkommunen in einigen Provinzen das Privateigentum nahezu komplett ab. Familienhäuser mussten Kantinen weichen. Sie sollten nicht nur die Lebensmittelversorgung zentralisieren, sondern das Zentrum des sozialen Lebens werden. Im Mittelpunkt der neuen Gesellschaft stand der Kampf für den Fortschritt: Die Kommunen wurden nach Militärrängen eingeteilt, der Parteisekretär zum „Kommandanten“erhoben. „Jeder ein Soldat“, war Maos Gebot. Bourgeoise Annehmlichkeiten wie Lohn, Ruhetage oder Arbeitszeitlimits gehörten der Vergangenheit an.
China war ein „riesiges Bootcamp“, geworden, schreibt Dikötter. Eine planwirtschaftliche Armee entstand, die jeden Befehl ihrer Generäle widerstandslos auszuführen hatte. Mao war überzeugt: Bloße Willenskraft sporne den Einzelnen zu Meisterleistungen an. Doch allzu bald bekam der revolu- tionäre Traum Risse. Bereits im Frühjahr 1958 gab es die ersten Hungertoten. Erschöpft vom Schlafentzug, von Hitze und Unterernährung, angetrieben und durch die Misshandlungen übereifriger Kader hatten sich Zehntausende zu Tode geschuftet, um die erratischen Quoten zu erreichen.
Bald starben nicht mehr nur Arbeiter. In den Wirren des „Großen Sprungs“verrottete nicht geerntetes Getreide auf den Feldern – die Bauern waren für Großprojekte abgezogen worden oder zu Millionen in Städte geflohen – und fiel frische Ware dem darniederliegenden Transportsystem zum Opfer. Dort, wo Kader Bücher schönten, mussten die Quoten trotz Ernteausfällen erfüllt werden. Gespart wurde bei der Bevölkerung. Im Kampf ums Überleben wurden zuvor integre Menschen zu Lügnern, Betrügern, Dieben. Hungernde aßen alles, was ihnen unter die Finger kam: Baumrinden, Leder, Stroh,