FAKTEN
Fast 60 Millionen Türken
sind an diesem Sonntag aufgerufen, ein neues Parlament und einen Präsidenten zu wählen. Mit der Wahl wird auch die von Präsident Recep Tayyip Erdo˘gan vorangetriebene Verfassungsreform abgeschlossen, die dem Präsidenten deutlich mehr Macht einräumt als bisher.
Mehr als 600.000
Wahlbeobachter hat die Opposition angekündigt zu mobilisieren. Sie hat die Regierung beim Verfassungsreferendum im vergangenen Jahr des Wahlbetrugs beschuldigt. Neben Erdo˘gan bewerben sich fünf weitere Kandidaten für das Präsidentenamt. Als aussichtsreichster Herausforderer des Staatschefs gilt Muharrem Ince von der größten Oppositionspartei CHP. eine mögliche Parlamentskandidatur von Sümeyye bewahrheiteten sich aber nicht. Nach ihrer Hochzeit und der Geburt ihres ersten Kindes im vergangenen Jahr ist von ihr weniger zu sehen.
Sümeyyes 37-jähriger Bruder Bilal dagegen tritt häufig in der Öffentlichkeit auf; er hat sich unter anderem der Förderung traditioneller Sportarten wie dem Bogenschießen verschrieben. Doch Bilals Ruf leidet bis heute unter Mitschnitten von Telefongesprächen mit seinem Vater, die Ende 2013 bekannt wurden: Damals wies Erdogan˘ seinen Sohn angeblich an, illegal angehäuftes Bargeld beiseitezuschaffen. In den Mitschnitten wirkte Bilal hilflos und ungeschickt – an einer Stelle sagt Erdogan˘ seinem Sohn, die tatkräftige Tochter Sümeyye sei auf dem Weg zu ihm, um die Sache zu erledigen. Die Burak-Affäre. Bilals Bruder Burak, 38, ist das einzige Mitglied der engeren Erdogan-˘Familie, das die Öffentlichkeit meidet, und zwar aus gutem Grund. Im Jahr 1998, als sein Vater Istanbuler Oberbürgermeister war, überfuhr Burak in Istanbul eine Frau und wurde von der Staatsanwaltschaft angeklagt. Ein Gutachter gab damals jedoch dem Opfer die Schuld – und wurde mit einem hohen Beamtenposten belohnt. Über die Affäre wurde in der Türkei lange so gut wie nicht geredet. Erst Erdogans˘ Herausforderer im Präsidentschaftswahlkampf, Muharrem Ince, sprach den Skandal in den vergangenen Wochen bei Kundgebungen an und verlangte eine Aufklärung des „Verbrechens“.
Für wesentlich mehr Schlagzeilen sorgt Erdogans˘ Schwiegersohn Berat Albayrak, der Ehemann seiner Tochter Esra. Albayrak, Spross einer Unternehmerfamilie und früherer Chef der Firma C¸alik Holding, hat in den vergangenen Jahren eine erstaunliche politische Karriere hingelegt: Seit 2015 ist der frühere Manager türkischer Energieminister und Parlamentsabgeordneter der AKP. Manche vermuten, dass Albayrak von Erdogan˘ als Kronprinz gesehen und auf eine künftige Machtübernahme vorbereitet wird. Der Energieminister ist stets an der Seite des Präsidenten, auch bei Auslandsreisen, bei denen es nicht um Energiepolitik geht. Regierungsnahe Medien widmen Albayrak große Aufmerksamkeit; kürzlich durfte der 40-Jährige in einer Wahlkampfsendung mit Jungwählern diskutieren.
Freund und Feind sehen Albayrak als wichtigsten Helfer des Präsidenten. Die Oppositionspolitikerin Meral Aksener¸ warf Erdogan˘ im Wahlkampf vor, er habe seinen Schwiegersohn angewiesen, bei staatlichen Medien schon vor dem Wahltag Jubelmeldungen über einen Sieg an diesem Sonntag zu bestellen. Albayrak reagierte mit einer Millionenklage gegen Aksener.¸ Bei Vertretern internationaler Organisationen hieß es, Albayrak habe viel Einfluss auf seinen Schwiegervater.
Wie bei einer engen Verbindung aus Verwandtschaft und Macht nicht anders zu erwarten, tauchen immer wieder Vorwürfe auf, der Erdogan-˘ Clan habe sich illegal bereichert und betreibe Politik mit unlauteren Mitteln. Die italienische Justiz ermittelte vorübergehend gegen Bilal Erdogan˘ wegen des Verdachts der Geldwäsche. Die russische Regierung warf der Erdogan-˘Familie vor einigen Jahren vor, in einen illegalen Handel mit Öl aus dem damaligen Herrschaftsgebiet des Islamischen Staates (IS) in Syrien verwickelt zu sein. Im vergangenen Jahr beschuldigte Oppositionsführer Kemal Kilicdaro¸glu˘ den Präsidenten und einige Mitglieder seiner Familie, sie hätten die Steueroase Isle of Man für millionenschwere Geschäfte genutzt. Kilicdaro¸glu˘ wurde darauf wegen Beleidigung des Präsidenten zu einer Geldstrafe verurteilt.
Auch im politischen Bereich haben die Erdogans˘ den Vorwurf von Unregelmäßigkeiten auf sich gezogen. Berat Albayrak soll im Zuge seiner derzeitigen Parlamentskandidatur mehrfach Massen-SMS-Botschaften an Bewohner seines Wahlkreises in Istanbul verschickt haben. Dafür habe er unerlaubterweise die Telefonnummern der Be- troffenen benutzt, hieß es in einer Strafanzeige des parteilosen Parlamentskandidaten Aydemir Güler.
Dass Albayraks weiterer Aufstieg an solchen Einsprüchen scheitert, ist wenig wahrscheinlich. Erdogan˘ will seinen Schwiegersohn als Statthalter im neuen Parlament sehen, auch wenn dieser dafür sein Ministeramt aufgeben muss. Konkurrenz droht Albayrak jedoch von Innenminister Süleyman Soylu, der sich ebenfalls Hoffnungen macht, Erdogan˘ eines Tages politisch zu beerben. Laut Presseberichten sind sich Albayrak und Soylu in herzlicher gegenseitiger Abneigung verbunden – der Präsidenten-Schwiegersohn soll dem Innenminister unter anderem gesagt haben, er wolle nicht mehr mit ihm zusammen fotografiert werden.
Albayraks Gerangel mit Soylu verdeutlicht, warum die Wahl an diesem Sonntag für die Zukunft der türkischen Politik eine besondere Rolle spielt. Der 64-jährige Erdogan˘ kann zwar noch gute zehn Jahre regieren, wenn er diese und die nächste Wahl gewinnt. Er richtet seinen Blick aber schon jetzt auf die Zeit nach seinem Ausscheiden aus der aktiven Laufbahn. Politisch tut er das mit der Einführung des Präsidialsystems in einem Land mit einer strukturellen Wählermehrheit rechts der Mitte. Nach Erdogans˘ Vorstellungen soll die Direktwahl des Staatsoberhauptes und dessen Ausstattung mit weitreichenden Machtbefugnissen sicherstellen, dass die Regierungsgewalt in der Türkei auf Dauer in der Hand der islamisch-konservativen Teile der Gesellschaft bleibt. Albayrak wird möglicherweise als künftiger Präsident herangezogen.
Ob der Plan funktioniert, ist nach dem Wahlkampf der vergangenen Wochen aber unsicher geworden. Erdogans˘ Gegenkandidat Ince hat Millionen von Wählern gegen den Präsidenten mobilisiert und sich dabei teilweise derselben herben Rhetorik bedient wie Erdogan˘ selbst. Inces Erfolge auf den Marktplätzen wirft aus Erdogans˘ Sicht die Frage auf, was geschieht, wenn die mit zusätzlichen Vollmachten gestärkte Präsidentschaft in die „falschen“Hände gerät. Einig Beobachter befürchten, dass Erdogan˘ eine Niederlage an der Wahlurne nicht akzeptieren wird.
Gegenkandidat Ince hat Millionen von Wählern gegen den Präsidenten mobilisiert.