Die Türken in Wien
Mehr als 100.000 Menschen mit türkischem Migrationshintergrund leben in Wien. Warum sie kamen, wie sie ticken und wen sie wählen.
Sie sind eher religiös, eher konservativ und verfügen über ein ausgeprägtes, nennen wir es, Nationalbewusstsein. Sie kamen zwar nicht, um zu bleiben, haben ihre Rückkehrpläne aber irgendwann aufgegeben. Heute, Sonntag, blicken die allermeisten von ihnen gespannt in die Türkei, wo die Parlaments- und Präsidentenwahlen stattfinden.
Die Rede ist von den gut 100.000 Wienern mit türkischem Migrationshintergrund, diese Community stellt – neben den Deutschen und Serben – die drittgrößte Migrantengruppe dar. Knapp 50.000 von ihnen besitzen offiziell die türkische Staatsbürgerschaft, rund 40.000 sind 18 Jahre oder älter und damit wahlberechtigt. Etwa die Hälfte hat von ihrem Wahlrecht Gebrauch gemacht und im Generalkonsulat ihre Stimme abgegeben.
Bei der vergangenen Parlamentswahl 2015 wählten fast 70 Prozent der Wiener Türken die AKP des Präsidenten Recep Tayyip Erdogan.˘ Ein ähnliches Ergebnis ist auch diesmal zu erwarten. Beim türkischen Verfassungsreferendum im April des vergangenen Jahres gaben ebenfalls 51 Prozent der in Wien registrierten Wähler ihre Stimme ab, 73 Prozent sprachen sich für die Einführung des Präsidialsystems aus.
Zurückzuführen ist diese deutliche Sympathie für Erdogan˘ und seine Partei auch auf die Herkunft der meisten in Wien lebenden Türken. Fast die Hälfte von ihnen haben ihre Wurzeln in der zentralanatolischen Provinz Yozgat, die sehr traditionell und religiös geprägt ist. Als 1964 wegen eines dramatischen Arbeitskräftemangels das Anwerbeabkommen zwischen Österreich und der Türkei unterzeichnet wurde (zuvor hatte man es in Spanien versucht und sich eine Absage geholt), meldeten sich aus dem verarmten Yozgat besonders viele Männer und Frauen, die als sogenannte Gastarbeiter in Wien landeten – was purer Zufall war.
Es hätte auch Graz oder Linz sein können. Die Gastarbeiter wurden dorthin geschickt, wo dringend Arbeitskräfte gesucht wurden. Erst in den Jahren danach bekamen sie mehr Mitspracherecht bei der Wahl ihrer Arbeitsstätte, und viele Yozgater suchten sich Wien aus. Schließlich lebten dort schon Bekannte, die ihnen den Start erleichtern konnten. Auch die meisten anderen Angeworbenen kamen aus ländlichen, traditionellen Gegenden Mittel- und Ostanatoliens, und nicht aus den fortschrittlicheren Großstädten.
Eigentlich wollten sie wieder zurückkehren, aber da die Nachfrage nach Arbeitskräften nicht nachließ und sie ihre Sparziele nicht einmal ansatzweise erreichten, vergingen die Jahre – bis Österreich für sie irgendwann zu einer neuen Heimat wurde. Sunniten und Aleviten. Fast alle Türken in Wien sind Muslime – „die überwiegende Mehrheit gehört zur sunnitischen hanafitischen Rechtsschule“, sagt die Wiener Soziologin Evrim Ersan Akkilic.¸ „Die zweitgrößte Gruppe, schätzungsweise rund zehn bis 20 Prozent, bilden die Aleviten. Dann gibt es noch einige wenige orthodoxe Armenier und Assyrer, die aus der Türkei nach Österreich gekommen sind, aber in wissenschaftlichen Studien nicht vorkommen.“
Aleviten aus der Türkei haben zwei Dachverbände und auch unterschiedliche Positionierungen zum Islam. Der größte Unterschied besteht hier darin, dass sich eine Gruppe als Teil der islamischen Glaubensgemeinschaft versteht, die andere hingegen den Alevitismus als eigenständige Glaubensrichtung erachtet. Dem Dachverband der kurdischen Vereine in Österreich zufolge sind im Übrigen rund 15.000 der in Wien lebenden Menschen aus der Türkei Kurden. Die knappe Mehrheit gehört dem sunnitischen Islam an, rund ein Drittel dem Alevitismus. Erdo˘gan allgegenwärtig. Wie in vielen Gegenden der Türkei ist auch die türkische Community in Wien schon zu einem beträchtlichen Teil „erdoganisiert“.˘ Sein Bild schmückt türkische Friseur- und Handygeschäfte, seine Reden im Fernsehen laufen in vielen Vereinslokalen den ganzen Tag im Hintergrund. „Tayyip“, wie ihn seine Anhänger nennen, ist omnipräsent.
Denn er repräsentiert das, was viele seiner Wiener Anhänger laut eigener Aussage bei österreichischen Politikern vermissen: eine starke Führungsper- sönlichkeit, die sich auch gegen Widerstand aus dem In- und Ausland durchsetze – und nicht wie frühere Staatsoberhäupter vor den Interessen Europas und der USA kusche. Erdogan˘ lebe für sein Volk, so der Tenor. Da nimmt man in Kauf, dass nicht alle Schritte seiner Politik, etwa hinsichtlich des Einflusses der Religion auf den türkischen Alltag oder des Umgangs mit der Pressefreiheit, mit den westeuropäischen Werten übereinstimmen.
Ihren Beitrag zum Erdogan-˘Kult leisten unter anderem der Verein Atib, der mit seinen Moscheen für die Türkei die Religionsausübung im Ausland ko-
Ab 1964 wurden wegen eines akuten Arbeitskräftemangels Tausende Türken angeworben. Fast alle Türken sind Muslime. Die Mehrheit davon Sunniten, der Rest zumeist Aleviten.
ordiniert, sowie die österreichische Union Europäischer Demokraten (UETD). Sie sieht sich als Anlaufstelle für die türkische Gemeinde nach außen sowie als Ansprechpartner für Wirtschaftstreibende und Journalisten und organisiert beispielsweise Gesprächsrunden bzw. Österreich-Besuche von Prominenten aus der Türkei. Atib geriet zuletzt wegen der Affäre um Kriegsspiele mit Kindern in einer Moschee in die Kritik, die UETD fiel wiederholt durch bizarre Auftritte ihrer Vertreter in den Medien auf.
Was das Einkommen und die Kaufkraft der Wiener Türken angeht, ergab zuletzt eine Studie der GFK Austria, dass sie zwar nicht ganz so viel verdienen wie die österreichische Bevölkerung, aber sie sind jünger, aufgeschlossener gegenüber neuen Produkten und haben ein ausgeprägteres Markenbewusstsein. Obwohl Türken im Schnitt nur über vier Fünftel der Kaufkraft der Mehrheitsbevölkerung verfügen, achten zwei Drittel von ihnen beim Einkauf vor allem auf die Qualität – bei der Gesamtbevölkerung ist nur einem Drittel Qualität wichtiger als Preis.
Vor allem die junge Migrantengeneration orientiert sich in ihren Konsumwünschen stark an der Mehrheitsgesellschaft. Zumal ihnen mehr Geld als ihren Eltern zum Ausgeben zur Verfügung steht – rund ein Drittel der unter 30-Jährigen gab an, sich ohne größere Schwierigkeiten ein eigenes Haus oder eine Wohnung kaufen zu können.