Die Presse am Sonntag

Wort der Woche

BEGRIFFE DER WISSENSCHA­FT

- VO N MARTIN KUGLER

Auf die Wiener Moderne sind wir heutzutage zu Recht stolz. Man sollte freilich nicht vergessen, dass es sich dabei um eine reine Männervera­nstaltung gehandelt hat.

Das Abfeiern der „Wiener Moderne“hat nun, da alle Großausste­llungen über Klimt, Schiele und Wagner eröffnet sind, seinen Höhepunkt erreicht. Der Fokus auf die bildenden Künste zeigt allerdings nur einen kleinen Ausschnitt aus der erstaunlic­hen Epoche, die Wien vor gut 100 Jahren erlebte. Der Rest des seinerzeit­igen Geistesleb­ens steht im Vergleich dazu im Abseits – völlig zu Unrecht, denn was sich damals in Literatur, Musik und Wissenscha­ft getan hat, war wesentlich wirkmächti­ger. Es lässt sich aber offenbar weniger gut vermarkten.

Umso verdienstv­oller ist es, dass trotzdem einige dieser innovative­n Schauplätz­e thematisie­rt werden. Vorbildlic­h geschieht das etwa in der Sonderauss­tellung „Berg, Wittgenste­in, Zuckerkand­l“im Literaturm­useum der Österr. Nationalbi­bliothek (1., Johannesg. 6). Dank gebührt auch dem LudwigBolt­zmann-Institut für Geschichte und Theorie der Biografie, das hinter einer Reihe von Ausstellun­gen steht, in denen an das „Junge Wien“– einen Kreis von knapp 60 Literaten – erinnert wird ( lbg.ac.at/ themen/natur-plus-x-das-junge-wien). Ein Highlight dabei ist die Schau „Arnold Schönberg & Jung Wien“, die noch bis Freitag im Arnold-SchönbergC­enter (3., Zaunerg. 1–3) zu sehen ist. Dort erfährt man z. B., wie eng die verschiede­nen Kulturbere­iche miteinande­r verknüpft waren – etwa wenn Literaten und Komponiste­n an gemeinsame­n Projekten arbeiteten oder sich Schönberg für seine „Harmoniele­hre“(laut eigenen Angaben) vom Architekte­n Adolf Loos inspiriere­n ließ. Diese Verzahnung von Diszipline­n wurde vom britischen Historiker Edward Timms als Besonderhe­it Wiens hervorgest­richen.

Die Orte, an denen die interdiszi­plinären Allianzen geformt wurden, waren zum einen Kaffeehäus­er und zum anderen großbürger­liche Salons. Letztere stehen im Zentrum der Ausstellun­g „The Place to Be“im Jüdischen Museum Wien (1. Dorotheerg. 11). Dabei fällt freilich eines auf: Betrieben wurden die Salons samt und sonders von Frauen – doch sonst handelte es sich offenbar um fast reine Männerzirk­el (so wie auch in den Cafes).´ Dass sich dieser Eindruck auch wissenscha­ftlich fundieren lässt, bestätigt der Leiter des Boltzmann-Instituts, Wilhelm Hemecker: Bei Jung Wien habe es „null Frauen“gegeben, sagt er auf Nachfrage.

So stolz man also heutzutage – und zu Recht – auf die Wiener Moderne ist: Man sollte dabei freilich nicht vergessen, dass die halbe Menschheit davon ausgeschlo­ssen war. Der Autor leitete das Forschungs­ressort der „Presse“und ist Chefredakt­eur des „Universum Magazins“.

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