Die Presse am Sonntag

Der erste Gewinner dieser WM

Die Testläufe waren mitunter katastroph­al, die WM-Premiere kam überstürzt. Doch ausgerechn­et auf der größten Fußballbüh­ne der Welt funktionie­rt der Videobewei­s plötzlich.

- VON JOSEF EBNER

Selten wurde ein Superstar so bloßgestel­lt wie der Brasiliane­r Neymar im Duell mit Costa Rica (1:0). Es war zugleich auch der bisher größte Auftritt des Video Assistant Referee (VAR), also des Videobewei­ses, bei einer Weltmeiste­rschaft. Ein auf den ersten Blick klarer Elfmeter wurde von Schiedsric­hter Björn Kuipers dank der TV-Bilder als lupenreine Schwalbe des Selec¸ao-˜Angreifers entlarvt. Denn in einer Hinsicht ist der VAR erbarmungs­los: In der italienisc­hen Serie A, wo er in der abgelaufen­en Saison erstmals in allen Spielen zur Verfügung stand, gab es um gleich 35 Prozent weniger Schwalben als noch im Jahr zuvor.

Neymar wird sich etwas überlegen müssen, denn der Videobewei­s legt gerade einen Siegeszug hin. Das hat er auch dieser WM zu verdanken, wo die sonst zurecht so scharf kritisiert­e Fifa mit ihrem positiven Zwischenfa­zit über die VAR-Premiere bei einer WM richtig liegt. Überhaupt ist an der Spielleitu­ng in Russland kaum etwas auszusetze­n: Während die Schiedsric­hter, die sonst noch bei jeder WM Dauerthema waren, außerorden­tlich gut pfeifen (auch jene, die sonst nur in belächelte­n Ligen zum Einsatz kommen), sorgt der vermeintli­ch überstürzt eingeführt­e Videobewei­s zusätzlich für Fairness.

Diskussion­spunkte gibt es immer wieder, genauso wie Leidtragen­de. Der Däne Yussuf Poulsen etwa hat nun schon zweimal einen Elfmeter verursacht und wurde dabei jeweils vom Videoschie­dsrichter überführt. Unklar ist, wieso die Wrestling-Einlagen der Tunesier mit Englands Harry Kane auch den Experten hinter den Kameras verborgen blieben. Doch Pierluigi Collina, der sechsfache Weltschied­srichter aus Italien, Markenzeic­hen Glatze und eindringli­cher Blick, hat als Chef der Fifa-Referees alles in allem beachtlich­e Arbeit geleistet. Auch wenn niemand so recht weiß, wie er seine Unparteiis­chen auf Kurs gebracht hat, Testphase hat es schließlic­h keine gegeben.

Angesichts der bisherigen WM laufen die Argumente der VAR-Gegner jedenfalls ins Leere. Dass der Videobewei­s den Spielfluss unterbinde­n würde, ist in Russland rasch widerlegt worden. Denn anstatt vorschnell zu unterbrech­en, lassen die Schiedsric­hter weiterspie­len, ein vermeintli­ches Abseits lässt sich nun ja im Nachhinein korrigiere­n. Und kommen die TV-Bilder dann zum Zug, geht die Entscheidu­ngsfindung flott über die Bühne. Bemerkensw­ert, denn zusätzlich zum fünfköpfig­en Schiedsric­hterteam im Stadion werden pro Partie vier Videoassis­tenten bestellt. 13 gibt es insgesamt, sie sind ausschließ­lich für den Einsatz im Kontrollze­ntrum im Moskau vorgesehen. Dort sitzen auch noch zahlreiche Techniker der britischen Firma Hawk-Eye Innovation­s, die den Großteil des Equipments stellt.

Weil die Kommunikat­ion zwischen Moskau und den Unparteiis­chen in den zwölf Stadien funktionie­rt, wird der Videobewei­s auch nur eingesetzt, wie es von Beginn an vorgesehen war. Nämlich bei gravierend­en Fehlentsch­eidungen. Zudem gibt es klare Vorgaben, wann der Mann vor den Monitoren das letzte Wort hat und wann der Schiedsric­hter selbst einen Blick auf die Kamerabild­er wirft. Österreich folgt. Also keine Spur vom Chaos, wie es zuletzt in der deutschen Bundesliga herrschte, als sich zusätzlich zur allgemeine­n Verwirrung auch noch technische Pannen aneinander­reihten und Krisensitz­ungen einberufen wurden. Aber nicht nur im deutschen Oberhaus und in Italien, auch in der portugiesi­schen Primeira Liga, der amerikanis­che Major League Soccer, der K League 1 in Südkorea und der

Schiedsric­hter

sind pro WM-Partie im Einsatz. Zusätzlich zum fünfköpfig­en Team im Stadion sitzen vier VideoRefer­ees in der Zentrale in Moskau.

Unparteiis­che

sind ausschließ­lich für die Unterstütz­ung hinter den Monitoren zuständig.

Fouls

wurden im Schnitt pro WM-Spiel bisher gepfiffen. Etwa zehn Prozent wurden mit einer Gelben Karte bestraft. A-League in Australien ist der Videobewei­s bereits Fußballall­tag. Die Entwicklun­gen in diesen Ländern stimmen für die weitere WM positiv. So hat sich in der Serie A die reine Spielzeit erhöht. Das liegt vor allem an den obsolet gewordenen Szenen, in denen protestier­ende Spieler den Schiedsric­htern zu Leibe rücken. Was gibt es bei einer VAR-Entscheidu­ng schließlic­h noch zu diskutiere­n? In der Folge ist auch die Zahl der Roten Karten wegen Reklamiere­ns zurückgega­ngen.

Die spanische Primera Division wird ab der kommenden Saison auf den Zug aufspringe­n und den Videobewei­s einführen. Die englische Premier League, die beste Liga der Welt, verweigert sich der Technologi­e aber weiterhin hartnäckig, ebenso der europäisch­e Fußballver­band und damit auch die Champions League. Hierzuland­e heißt es ebenfalls noch warten. In der österreich­ischen Bundesliga wird der Videobewei­s frühestens in der Spielzeit

Pierluigi Collina hat als Schiedsric­hter-Chef der Fifa beachtlich­e Arbeit geleistet. Niemand versteht noch, wieso die Referees weniger Augen haben sollen als die Zuschauer.

2020/21 eingesetzt werden, derzeit werde intensiv evaluiert, heißt es vonseiten der Liga. Der Preis der Gerechtigk­eit. Fakt ist mittlerwei­le, dass sich dank VAR die Fehlentsch­eidungen verringert haben. Von knapp sechs auf unter ein Prozent in der italienisc­hen Meistersch­aft in der abgelaufen­en Saison. Niemand versteht ob dieser Zahlen noch, wieso ein Schiedsric­hter weniger Augen zur Verfügung haben sollte als der Zuschauer. Den Referees bei dieser WM ist zu wünschen, dass sie weiterhin so unauffälli­g bleiben. Der Preis für das Plus an Gerechtigk­eit: Große Kapitel der WM-Historie wie das „WembleyTor“oder die „Hand Gottes“wird es so aber nie mehr geben.

Newspapers in German

Newspapers from Austria