Der erste Gewinner dieser WM
Die Testläufe waren mitunter katastrophal, die WM-Premiere kam überstürzt. Doch ausgerechnet auf der größten Fußballbühne der Welt funktioniert der Videobeweis plötzlich.
Selten wurde ein Superstar so bloßgestellt wie der Brasilianer Neymar im Duell mit Costa Rica (1:0). Es war zugleich auch der bisher größte Auftritt des Video Assistant Referee (VAR), also des Videobeweises, bei einer Weltmeisterschaft. Ein auf den ersten Blick klarer Elfmeter wurde von Schiedsrichter Björn Kuipers dank der TV-Bilder als lupenreine Schwalbe des Selec¸ao-˜Angreifers entlarvt. Denn in einer Hinsicht ist der VAR erbarmungslos: In der italienischen Serie A, wo er in der abgelaufenen Saison erstmals in allen Spielen zur Verfügung stand, gab es um gleich 35 Prozent weniger Schwalben als noch im Jahr zuvor.
Neymar wird sich etwas überlegen müssen, denn der Videobeweis legt gerade einen Siegeszug hin. Das hat er auch dieser WM zu verdanken, wo die sonst zurecht so scharf kritisierte Fifa mit ihrem positiven Zwischenfazit über die VAR-Premiere bei einer WM richtig liegt. Überhaupt ist an der Spielleitung in Russland kaum etwas auszusetzen: Während die Schiedsrichter, die sonst noch bei jeder WM Dauerthema waren, außerordentlich gut pfeifen (auch jene, die sonst nur in belächelten Ligen zum Einsatz kommen), sorgt der vermeintlich überstürzt eingeführte Videobeweis zusätzlich für Fairness.
Diskussionspunkte gibt es immer wieder, genauso wie Leidtragende. Der Däne Yussuf Poulsen etwa hat nun schon zweimal einen Elfmeter verursacht und wurde dabei jeweils vom Videoschiedsrichter überführt. Unklar ist, wieso die Wrestling-Einlagen der Tunesier mit Englands Harry Kane auch den Experten hinter den Kameras verborgen blieben. Doch Pierluigi Collina, der sechsfache Weltschiedsrichter aus Italien, Markenzeichen Glatze und eindringlicher Blick, hat als Chef der Fifa-Referees alles in allem beachtliche Arbeit geleistet. Auch wenn niemand so recht weiß, wie er seine Unparteiischen auf Kurs gebracht hat, Testphase hat es schließlich keine gegeben.
Angesichts der bisherigen WM laufen die Argumente der VAR-Gegner jedenfalls ins Leere. Dass der Videobeweis den Spielfluss unterbinden würde, ist in Russland rasch widerlegt worden. Denn anstatt vorschnell zu unterbrechen, lassen die Schiedsrichter weiterspielen, ein vermeintliches Abseits lässt sich nun ja im Nachhinein korrigieren. Und kommen die TV-Bilder dann zum Zug, geht die Entscheidungsfindung flott über die Bühne. Bemerkenswert, denn zusätzlich zum fünfköpfigen Schiedsrichterteam im Stadion werden pro Partie vier Videoassistenten bestellt. 13 gibt es insgesamt, sie sind ausschließlich für den Einsatz im Kontrollzentrum im Moskau vorgesehen. Dort sitzen auch noch zahlreiche Techniker der britischen Firma Hawk-Eye Innovations, die den Großteil des Equipments stellt.
Weil die Kommunikation zwischen Moskau und den Unparteiischen in den zwölf Stadien funktioniert, wird der Videobeweis auch nur eingesetzt, wie es von Beginn an vorgesehen war. Nämlich bei gravierenden Fehlentscheidungen. Zudem gibt es klare Vorgaben, wann der Mann vor den Monitoren das letzte Wort hat und wann der Schiedsrichter selbst einen Blick auf die Kamerabilder wirft. Österreich folgt. Also keine Spur vom Chaos, wie es zuletzt in der deutschen Bundesliga herrschte, als sich zusätzlich zur allgemeinen Verwirrung auch noch technische Pannen aneinanderreihten und Krisensitzungen einberufen wurden. Aber nicht nur im deutschen Oberhaus und in Italien, auch in der portugiesischen Primeira Liga, der amerikanische Major League Soccer, der K League 1 in Südkorea und der
Schiedsrichter
sind pro WM-Partie im Einsatz. Zusätzlich zum fünfköpfigen Team im Stadion sitzen vier VideoReferees in der Zentrale in Moskau.
Unparteiische
sind ausschließlich für die Unterstützung hinter den Monitoren zuständig.
Fouls
wurden im Schnitt pro WM-Spiel bisher gepfiffen. Etwa zehn Prozent wurden mit einer Gelben Karte bestraft. A-League in Australien ist der Videobeweis bereits Fußballalltag. Die Entwicklungen in diesen Ländern stimmen für die weitere WM positiv. So hat sich in der Serie A die reine Spielzeit erhöht. Das liegt vor allem an den obsolet gewordenen Szenen, in denen protestierende Spieler den Schiedsrichtern zu Leibe rücken. Was gibt es bei einer VAR-Entscheidung schließlich noch zu diskutieren? In der Folge ist auch die Zahl der Roten Karten wegen Reklamierens zurückgegangen.
Die spanische Primera Division wird ab der kommenden Saison auf den Zug aufspringen und den Videobeweis einführen. Die englische Premier League, die beste Liga der Welt, verweigert sich der Technologie aber weiterhin hartnäckig, ebenso der europäische Fußballverband und damit auch die Champions League. Hierzulande heißt es ebenfalls noch warten. In der österreichischen Bundesliga wird der Videobeweis frühestens in der Spielzeit
Pierluigi Collina hat als Schiedsrichter-Chef der Fifa beachtliche Arbeit geleistet. Niemand versteht noch, wieso die Referees weniger Augen haben sollen als die Zuschauer.
2020/21 eingesetzt werden, derzeit werde intensiv evaluiert, heißt es vonseiten der Liga. Der Preis der Gerechtigkeit. Fakt ist mittlerweile, dass sich dank VAR die Fehlentscheidungen verringert haben. Von knapp sechs auf unter ein Prozent in der italienischen Meisterschaft in der abgelaufenen Saison. Niemand versteht ob dieser Zahlen noch, wieso ein Schiedsrichter weniger Augen zur Verfügung haben sollte als der Zuschauer. Den Referees bei dieser WM ist zu wünschen, dass sie weiterhin so unauffällig bleiben. Der Preis für das Plus an Gerechtigkeit: Große Kapitel der WM-Historie wie das „WembleyTor“oder die „Hand Gottes“wird es so aber nie mehr geben.