Der ungehörte John Coltrane
Er gilt als größter Saxofonist des Jazz: John Coltranes Album »Both Directions at Once« enthält nie Veröffentlichtes in bester Tonqualität. »Die Presse« reiste dafür nach New York.
Etwas mehr als eine Stunde brettelt der Expresszug von der Penn-Station in Manhattan nach Pinelawn. Die Station liegt in einer Art Niemandsland auf Long Island. Ein Bahnsteig und sonst nur ein gigantischer Friedhof. Dort ist die letzte Ruhestätte von Jazzlegende John Coltrane zu finden. Es ist Sonntag und das Verwaltungsgebäude daher menschenleer. Friedhofsplan gibt es keinen, und der im Auto herumkurvende Security hat keinen Schimmer. „Schauen Sie mal dort hinten bei den Bahngleisen!“, murmelt der junge Afroamerikaner im Fond des Wagens. Vom weltberühmten Saxofonisten Coltrane hat er wohl noch nie gehört.
Friedhöfe in den USA sind erstaunlich menschenleer. Eine magische Verbindung mit den Ahnen, wie sie etwa Japaner pflegen, hat man hier nicht, für das sinnierende Gedenken der Europäer fehlt offenbar die Zeit. Ein Widerspruch zur „No Man Is an Island“-Sentenz des Poeten John Donne, die hier auf einen Granitblock graviert ist.
Weiter, zum schlichten Grabstein, den nur eine Lotusblume und der Schriftzug „Coltrane“zieren. Eine hilflose Geste, dem Mann seine Musik zurückzubringen – der Wind zerfetzt die Klangwölkchen aus dem iPhone. Die Ballade „Alabama“, die Elegie „Acknowledgement“von „A Love Supreme“.
Anderntags dann im Mittagslicht am Broadway. Ein schwarzer Bus wartet vor dem Gebäude des Labels Universal Music. Circa 60 aus aller Welt angekarrte Journalisten besteigen das Fahrzeug, das dann an Harlem vorbei rüber zu den Englewood Cliffs steuert. Der dunkelgrüne Postkasten trägt die Nummer 445. Ehrfürchtig betreten die Jazzfreunde diesen geheiligten Boden, das Rudy-Van-Gelder-Studio, in dem u. a. das gesamte OEuvre des BlueNote-Labels aufgenommen wurde.
Nichts als Stein und Zedernholz: Der Klang dieses Studios ist unerreicht.
Hier spielten Musiklegenden. Der unverputzte Bau strebt kathedralenartig in die Höhe. Nichts als Stein und Zedernholz. Der Klang hier ist unerreicht, das Werk des 1924 geborenen, 2016 verstorbenen Toningenieurs Rudy Van Gelder. Der Steinway-Flügel, auf dem Herbie Hancock und Duke Pearson ihre Aufnahmen eingespielt haben, steht noch in einer Ecke. Am Eingang steht John Coltranes Sohn Ravi. Er begrüßt jeden der Ankommenden mit Handschlag. Es ist ein besonderer Tag.
Heute wird eine am 6. März 1963 hier aufgenommene Musik neu ertönen. Schon länger gab es Gerüchte um unveröffentlichte Studioaufnahmen Coltranes. Jetzt ist es so weit. Sonny Rollins, den einstige Jazzjournalisten vorzugsweise als Antagonisten des spirituellen Coltrane beschrieben, fand die schönsten Worte: „This is like finding a new room in the great pyramid.“
Coltranes Arbeitspensum war enorm. Fast als hätte er gewusst, dass er nicht viel mehr als 40 Jahre Zeit auf Erden hätte. 1963 brachte er drei Studioalben auf den Markt, „Ballads“und seine Arbeiten mit Duke Ellington bzw. mit dem Sänger Johnny Hartman. Alles Alben, in deren Zentrum die Melodie stand. Was er an diesem 6. März aufnahm, passte nicht ganz zu diesem Output. Der ohne lange Soli auskommende Nat-King-Cole-Hit „Nature Boy“und die wehe Lehar-´Melodie „Vilia“, die ja. Aber die beiden unbetitelten, auf dem Sopransaxofon gespielten Originale, die nun erstmals veröffentlicht werden, deuten schon den großen metaphysischen Sucher an, der Coltrane nur wenig später werden sollte.
Das passte Bob Thiele, dem langjährigen Boss von Impulse-Records, damals offenbar nicht ins Veröffentlichungskonzept. Dennoch hat er beinah jeden Live-Gig von Coltrane aufgenommen. Er wusste, was für eine künstlerische Kapazität er da unter Vertrag hatte. „Als hätte man Beethovens zehnte Symphonie gefunden“oder „wie ein verschollenes Album der Beatles“, bemühten sich selbst sonst sehr nüchterne Schreiber jetzt um Superlative. Als Coltrane nach Österreich kam. Auch Österreich-Bezüge hat es bei diesem Jahrhundertmusiker gegeben. „My Favourite Things“aus dem Musical „Sound of Music“wurde zu Coltranes größtem Hit. Und jetzt dieses tiefsinnige Tändeln mit Lehars´ eingängigem Vilia-Lied, das er wohl von Artie Shaws Big-Band-Version kannte.
Etwas mehr als drei Monate vor diesen Aufnahmen spielte Coltrane seine zwei einzigen Österreich-Konzerte. Vom Grazer Auftritt blieb ein gutes Bootleg, vom Wiener Konzert eine Kritik in der „Presse“, geschrieben von einem Freelancer, dem Maler Claus Pack. Er lobte das radikal Moderne von Coltranes Sound, der „die Jazzliebhaber im Wiener Konzerthaus entzückt zurückließ“. Exakt das werden diese 55 Jahre alten Aufnahmen für heutige Hörer leisten.