Der Wolf und die Menschen – kann das funktionieren?
360 Grad. Der Wolf ist zurück in Österreich und breitet sich immer mehr aus. Sogar vor den Toren Wiens hat einer ein Schaf gerissen. Kann ein Zusammenleben mit einem Tier funktionieren, das viele nur mit dem Adjektiv »böse« beschreiben?
Hubert Stock wohnt idyllisch. Auf einem Hügel direkt am Wald in der Nähe von Werfen in Salzburg steht der Bauernhof, auf dem er etwa 30, 40 Schafe hält. Als er am 1. Mai nach dem Aufstehen aus dem Fenster des Schlafzimmers schaute, war der Anblick aber alles andere als idyllisch.
„A paar Schafe sind regungslos auf der Wiesn g’legen“, erzählt der Pongauer. „Ich hab sofort an den Wolf gedacht.“Ein paar Tage früher gab es bereits Risse in der Nachbarschaft. Stock lief hinunter zu den Schafen, vier waren tot, zwei hatten tiefe Bisse in der Brust und mussten notgeschlachtet werden.
„Ja mei“, sagt der 55-jährige Stock. Das sei natürlich eine emotionale Geschichte gewesen, die Schafe so zu sehen. „Das tuat schon weh.“Andererseits: „Der Wolf hat nichts falsch gemacht, er ist nur der Natur gefolgt. Er holt sich dort die Beute, wo er sie am leichtesten holen kann – und das waren halt meine Schafe.“
Auf so viel Pragmatismus trifft man selten in der Debatte über den Wolf, der sich wieder in Österreich ausbreitet. Zuerst waren es nur einzelne Exemplare, die mehr zufällig durch das Land zogen. Dann ließen sich auf dem Truppenübungsplatz Allentsteig in Niederösterreich Mitte 2015 eine Fähe und ein Rüde aus dem Norden Europas nieder. 2016 hatten sie fünf Junge, das erste heimische Wolfsrudel seit etwa 150 Jah- ren. Im vergangenen Jahr waren es sechs Jungwölfe, und auch heuer gibt es wieder Nachwuchs, erste Sichtungen sprechen von mindestens vier Welpen.
Da das Revier zu klein ist, verlassen die Tiere den Truppenübungsplatz. Andere Wölfe, die in Europa streng geschützt sind, drängen aus den Nachbarländern immer tiefer nach Österreich vor. Sogar vor den Toren Wiens wurde Mitte Juni ein Wolf nachgewiesen. Auf einer Weide in Mauerbach, einer Ortschaft im Westen der Millionenstadt mitten im Wienerwald, wurde ein Schaf gerissen. Die DNA-Analyse bestätigte einen Wolf aus den Westalpen (Italien, Frankreich, Schweiz) – vermutlich ein Jungtier, das auf der Suche nach einem eigenen Revier ist.
Wegen der großen Wanderstrecken der Wölfe, ihrer Scheu und des nicht einfachen Nachweises (DNA oder Fotofalle) ist es schwer zu sagen, wie viele es aktuell in Österreich sind. Die Schätzungen schwanken mit der Zahl der Gesprächspartner: Zwischen 13 und 18 werden genannt, die derzeit in Salzburg, Niederösterreich, Oberösterreich und der Steiermark leben könnten – permanent oder nur kurzfristig. Entschädigung für Bauern. Der Wolf ist also endgültig wieder da, und das wirft eine Frage auf: Was soll man tun? Denn so groß die Freude mancher über die Rückkehr des im 19. Jahrhundert nahezu vollständig ausgerotteten Tieres ist, so groß ist auch die Sorge. Man sieht es aktuell rund um Weitersfelden in Oberösterreich, wo Bauern nach einem Wolfsriss ihre Tiere im Stall behalten und Menschen Angst haben, im Wald spazieren zu gehen. Man sah es vor wenigen Wochen in Salzburg, wo es 14 gerissene Schafe gab (sechs wurden mittels DNA eindeutig einem Wolf nachgewiesen) und die Causa tagelang die Landesregierung beschäftigte.
Die Rückkehr des Wolfs wirft viele Fragen und Probleme auf: Ist Österreich nicht zu dicht besiedelt, um Wölfen Lebensraum zu bieten? Ist das Tier, das viele seit den Gutenachtgeschichten im Kindesalter nur mit dem Adjektiv „böse“verbinden, nicht eine zu große Bedrohung für die Landwirtschaft und für den Tourismus? Wird man sich noch in den Wald trauen können?
Alles reduziert sich auf die recht banale Frage, ob man in Österreich lernen kann, mit dem Wolf zu leben – mit allen notwendigen Anpassungen – oder ob man ihn erneut ausrotten wird, illegal abgeschossen von jenen, die ihn nicht in ihrem Revier oder in ihrer Landwirtschaft dulden wollen.