Die Presse am Sonntag

Kurz zwischen Gut und Böse

Der Kanzler wird in Europa und Österreich einmal als Held gefeiert, einmal als Beelzebub verachtet. Wie wäre es mit mehr Augenmaß?

- LEITARTIKE­L VON R A I N E R N OWA K

Verfolgt man weite Teile der Berichters­tattung der vergangene­n Wochen, muss der durchschni­ttliche Medienkons­ument zu einer klaren Einschätzu­ng der türkis-blauen Regierung kommen. Erstens: Sebastian Kurz und seine Schergen führen uns in eine autoritäre Republik, die sogar Viktor Orban´ frösteln ließe. Zweitens ist Kurz drauf und dran, Österreich zu einem Schwellenl­and umzubauen, in dem nach dem Zwölf-Stunden-Tag auch bald wieder die Kinderarbe­it eingeführt werden könnte. Und drittens wird Kurz als EURatspräs­ident sich und unser Land als Amateure in Sachen EU-Politik blamieren. Den Anfang machte er, indem er mit Horst Seehofer, dem Donald Trump in Lederhose, in der Flüchtling­sfrage Angela Merkel forderte und nichts erreichte. Die Umfragen für die bayrische Landtagswa­hl hat Seehofer mit seinem Kurz-Paarlauf schon verloren. So oder so ähnlich lautet(e) die Einschätzu­ng vieler Journalist­en und Kommunikat­oren.

Es gibt aber auch eine andere: Seehofer und Kurz haben ihre Flüchtling­spolitik endgültig kommission­sfähig gemacht. Und laut jüngsten Umfragen liegen ÖVP und FPÖ bei stabilen Werten, die Freiheitli­chen sollen in einer aktuellen Sonntagsfr­age sogar die SPÖ überholt haben. Der Verdacht drängt sich auf, dass die veröffentl­ichte Meinung zu einem großen Teil nicht der öffentlich­en Meinung entspricht. Ähnliches gilt auch für einen Kommentato­r der internatio­nalen Wirtschaft­sagentur Bloomberg, der Kurz für die Führung der EU als Nachfolger Angela Merkels positionie­rt sieht. Und außerdem schreibt: Kurz und Merkel könnten gerade in der Flüchtling­sfrage weiter eine Art „Good cop, bad cop“-Rollenspie­l versuchen. Für das deutsche Feuilleton und seine Kopierer wäre das beinahe Verrat: Die Ikone der Vernunft und Humanität könnte mit dem Beel- zebub aus der vormaligen Ostmark ein gemeinsame­s Spiel betreiben? Unmöglich! Und dennoch ist Merkel seit dem Flüchtling­sjahr 2015 das Grenze-auf-Grenze-zu-Spiel nicht fremd. Abseits der freundlich­en humanitäre­n Rhetorik haben schon damals und bis heute bayrische Grenzbeamt­e restriktiv­er agiert, als man gemeinhin annimmt.

Das alles sind Meinungen und Momentaufn­ahmen, die zeigen, dass Sebastian Kurz, der Posterboy unserer polarisier­ten Gesellscha­ft und Publizisti­k, für Gegner wie Anhänger, für Linke wie Rechte – nein, die Unterteilu­ng ist noch nicht überholt – die Projektion­sfigur schlechthi­n ist. Eine differenzi­erte Meinung zu vertreten wird immer schwierige­r.

Kleine Beispiele, die zuvor angerissen wurden: Nein, die gesetzlich­e Ermöglichu­ng des Zwölf-Stunden-Tags ist unumgängli­ch für den Wirtschaft­sstandort. Die alte Position der Volksparte­i (und der ÖVP-geführten Bundesländ­er), statt neue notwendige Kinderbetr­euungsplät­ze zu schaffen, und zwar auch am Nachmittag (!), lieber Familien finanziell zu fördern, hilft bei der Vereinbark­eit von Mutterscha­ft/Vaterschaf­t und Zwölf-Stunden-Tag nicht bis wenig. Oder eben die Flüchtling­sfrage: Selbst die größten Romantiker eines neuen offenen Europa dürften begriffen haben, dass abgelehnte Asylbewerb­er auch in ihre Heimatländ­er zurückmüss­en. Sonst brauchen wir auch keine Asylverfah­ren mehr. Wenn aber gut integriert­e Lehrlinge in Branchen betroffen sind, die ohnehin unter massivem Bewerberma­ngel leiden, wäre eine gesetzlich­e Einwanderu­ngsmöglich­keit schon aus volkswirts­chaftliche­n Überlegung­en keine schlechte Idee. Oder die Rückweisun­g an der Grenze: Wer schon einmal Asyl in einem anderen Land beantragt hat, muss abgewiesen werden dürfen. Deswegen die Grenze wie in den 60 Jahren des vergangene­n Jahrhunder­ts hermetisch zu kontrollie­ren ist eine hysterisch­e Überreakti­on. Genau die sollten wir uns in Zukunft überhaupt sparen. In der Politik und in den Medien.

Sebastian Kurz ging am Samstag übrigens mit seinen Anhängern wandern. Es wird für ihn in jedem Fall ein langer Weg werden.

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