Erdogans˘ gelenkte Erinnerung
Der blutige Putschversuch in der Türkei jährt sich zum zweiten Mal. Die Regierungspartei inszeniert die Nacht als Wendepunkt der modernen Landesgeschichte – und sich selbst als historische Verwahrer.
Vergangenen Montag war wieder so ein Tag. Im türkischen Parlament in Ankara wurde Recep Tayyip Erdogan˘ in aller Feierlichkeit zum alten, neuen Präsidenten des neuen Präsidialsystems vereidigt. Wieder ein Anlass für die Weltpresse, sich den Mann näher anzusehen, der sich seit 16 Jahren scheinbar mühelos an der Macht hält. Viel ist schon über den Politiker geschrieben worden. Erdogan,˘ der Islam und Demokratie vereinigen kann, Erdogan,˘ der Versöhner mit den Kurden, Erdogan,˘ der Polterer, Erdogan,˘ der Autokrat, Erdogan,˘ der misstrauische Machtmensch. Und wenn sich am heutigen Sonntag der gescheiterte Putsch zum zweiten Mal jährt, zeigt sich eine andere Facette des türkischen Präsidenten sehr stark: Erdogan,˘ der scharfsinnige Historiograf.
Seit zwei Jahren arbeitet die Regierungspartei unter der Ägide Erdogans˘ akribisch daran, die blutige Putschnacht als Schnittpunkt der modernen türkischen Geschichte darzustellen. In anderen Worten: Staatsgründer Atatürk hat die Erste Republik gegründet, Erdogan˘ formiert gerade die Zweite Republik. Bereits kurz nach der Putschnacht bezeichnete der Präsident die Ereignisse als Geschenk Gottes. Der sogleich einsetzende Märtyrerkult ging einher mit einer staatlich gelenkten Erinnerungspflege, die mit der Umbenennung von Straßen- und Gebäudenamen begann. Der 15. Juli ist mittlerweile der offizielle Feiertag „Tag der Demokratie und der nationalen Einheit“– und es ist kein Zufall, dass sich relevante Ereignisse rund um diesen Tag verdichten, beginnend mit der Vereidigung des neuen, alten Präsidenten.
Die Namen und Bilder der gefallenen Zivilisten säumen nicht nur die Straßen in den Großstädten, sondern es wurden auch die Geschichtsbücher um diese Episode erweitert, bisweilen wurden dafür andere Epochen etwas gekürzt. Zwei Jahre ist die Putschnacht nun schon her, und seitdem ist kaum ein Tag vergangenen, an dem die AKP das Ereignis nicht zum Thema gemacht hat – ganz gleich, ob es um den Putsch ging, oder darum, eine neu asphaltierte Straße zu eröffnen. Zwei Jahre lang herrschte in der Türkei Ausnahmezustand, und erst am Freitag ließ der Präsident verkünden, dass er den Notstand am 18. Juli, kurz nach den Gedenkfeiern, auslaufen lassen will. Lebenslang. Über Gedenkfeiern, Veranstaltungen und Kundgebungen wird die blutige Nacht im kollektiven Gedächtnis verankert (auch auf dem Albertinaplatz in Wien ist am heutigen Sonntag eine Demonstration geplant). Vor wenigen Tagen verurteilte ein Istanbuler Gericht Dutzende Soldaten zu lebenslanger Haft. Wie auch beim ersten Jahrestag informiert nun die türkische Presse ausführlich über die Prozesse gegen die mutmaßlichen Putschisten. 1624 Lebenslang-Urteile haben Gerichte, zumindest in erster Instanz, bislang ausgesprochen, weitere 2381 Urteile betrafen zum Teil lange Haftstrafen. Die drei drei wichtigsten Sammelprozesse werden noch fortgeführt.
Zum Narrativ gehört auch das Gefühl des Alleingelassen-worden-Seins. Tatsächlich haben sich Vertreter der westlichen Welt lange Zeit gelassen, um der Türkei Trost zu spenden. Dabei haben die Putschisten nicht nur die schwierige Figur Erdogan˘ aus dem Amt entfernen wollen, sie haben auch bewusst tote Zivilisten in Kauf genommen und das Parlament zerbombt. In jener Nacht waren nicht nur AKP-Anhänger auf den Straßen. Die vielen Jahrzehnte, in denen das Militär ein stets bedrohliches Schattendasein ge- führt hat, waren der Bevölkerung einfach genug.
„Zwei Jahre nach den hinterhältigen Attacken [. . .] ist die Türkei nun stärker, unverwüstlicher und effektiver mit dem neuen Regierungssystem“, schrieb kürzlich der Erdogan-˘Sprecher Ibrahim Kalın. Der Putsch hat die AKP tatsächlich stärker gemacht. Und die Gülen-Bewegung, die dafür verantwortlich sein soll, ist, zumindest in der Türkei, nur mehr ein Fragment.
1624 Lebenslang-Urteile haben die türkischen Gerichte bislang ausgesprochen.