Der erste »Lobbyist« von Wien
Zwischen Kunst, Chronik und Stadtforschung: Der Fotograf Wolfgang Thaler bildet alle Hotellobbys in Wien ab. Das Mammutprojekt nähert sich langsam der Zielgeraden.
Die Maxime, wonach sich über Geschmäcker nicht streiten lässt, gilt nicht nur für so wichtige Dinge des Lebens wie Musik, Mobiliar, Mode oder die Wahl des Lebenspartners, sondern auch für die trivialeren Aspekte des Alltags – beispielsweise die bevorzugte Unterkunft auf Reisen. Während manche Zeitgenossen die schwülstige Opulenz des Schlosshotels bevorzugen, zieht es andere hin zu den strengen Linien modernistischer Wohnregale aus der Wirtschaftwunderära der Nachkriegszeit. Es gibt Freunde sozialistischer Intourist-Bettenburgen; eingefleischte Anhänger in Würde ergrauter, leicht abgenutzter Etablissements a` la Wes Anderson; designaffine Kundschaft, die ohne Philippe Starck-Nachttischlampe schlecht schlafen kann; oder vielgereiste Hotelveteranen, die in erster Linie darauf achten, ob sich die Fenster im Zimmer öffnen lassen und das Personal hinter dem Tresen der Hotelbar einen passablen Negroni mixen kann.
Im Gegensatz zu den oben erwähnten Vorlieben nimmt sich der Hotelgeschmack von Wolfgang Thaler geradezu eklektisch aus. Er besucht jede Unterkunft. Und zwar ausnahmslos jede. Die einzige Voraussetzung: Es muss sich um ein Hotel in Wien handeln. Denn der Fotograf und Künstler hat sich zum Ziel gesetzt, alle Hotellobbys in der Bundeshauptstadt abzubilden. Eine aktuelle Hochrechnung, um die Größenordnung des Unterfangens besser einordnen zu können: Derzeit gibt es in der Donaumetropole, grob geschätzt, 400 Hotels. Jedes verfügt über einen Eingangsbereich für Gäste – und all diese Lobbys sollen bis Jahresende im Kasten sein. Kasten insofern, als Thaler, der in seiner Arbeit die Grenzen zwischen Kunst, Dokumentation und Stadtforschung verwischt, mit einer analogen Großformatkamera arbeitet und – für die Dauer dieses Projekts – das Digitale scheut. Melange und Mep’Yuk. Die seit mehreren Jahren laufende Mammutaufgabe – Arbeitstitel „Wien Hotel“– ist für den gebürtigen Salzburger gleich in doppelter Hinsicht eine Rückkehr zu den Wurzeln. Im Jahr 1995 brachte Thaler gemeinsam mit der Journalistin (und nunmehrigen ORF-Moderatorin) Clarissa Stadler ein Buch über die zartrosige Wiener Konditoreikette Aida heraus, deren Kardinalschnitten und Capresetorten aus dem ostösterreichischen Diätplan nicht wegzudenken sind: „Mit reiner Butter“.
Anfang der Nullerjahre folgte eine weitere Publikation, die nichts mit kalorienreichen Mehlspeisen, aber vieles mit Interieurs und Stimmungen zu tun hatte: „Mep’Yuk“. Mehrere Jahre lang reiste Thaler rund um den Globus – von Mexiko City über Sofia bis nach Tel Aviv – und kreierte ein imaginiertes, in sich geschlossenes Universum aus futuristisch anmutenden, menschenleeren Innenräumen, das sich ganz hervorragend als Kulisse eines frühen Films von Rainer Werner Fassbinder eignen würde. Der Name Mep’Yuk stammt übrigens aus dem Klingonischen, einer fiktiven Sprache aus der Weltraumserie „Raumschiff Enterprise“, und bedeutet so viel wie „Plastik-Planet“.
Die Jahre danach verbrachte Thaler schwerpunktmäßig im südöstlich benachbarten Ausland und widmete sich gemeinsam mit den Architekturtheoretikern Maroje Mrduljasˇ und Vladimir Kulic´ der Dokumentation des architektonischen Erbes der Sozialistischen Föderativen Republik Jugoslawien im Allgemeinen und dem OEuvre des Doyens des jugoslawischen Modernismus, Nikola Dobrovic,´ im Speziellen. Nun ist also wieder Wien an der Reihe. Doch warum ausgerechnet Hotellobbys?
Um diese Frage beantworten zu können, sollte man zunächst einmal einen Blick ins Fremdwörterbuch werfen. Gemäß Duden beschreibt der räumliche Begriff Lobby eine „Wandelhalle im (britischen, amerikanischen) Parlamentsgebäude, in dem die Abgeordneten mit Wählern und Interessengruppen zusammentreffen“. Wer früher in der Lobby saß, hatte also in den allermeisten Fällen ein geschäftliches Anliegen. Sacrum und Profanum. Diese mythologische Säulenhalle, die es, wenn überhaupt, bloß kurz in der unschuldigen, von Sicherheitsbedenken unbelasteten frühen Kindheit des Parlamentarismus gegeben haben muss, war bewusst als Zwischenraum konzipiert – als ein Bereich, in dem das demokratische Sacrum auf das bürgerliche Profanum trifft.
Anders ausgedrückt handelte es sich bei der archetypischen Lobby um jene Stelle in der Membran der praktizierten Politik, die für Normalsterbliche durchlässig war. Die beiden Stich- worte Membran und Durchlässigkeit führen uns zurück zu Thaler und den Wiener Vestibülen. Denn die Hotellobby ist für ihn eine Schnittstelle der lokalen und der internationalen Dimension – eine Schleuse, in der sich Touristen und Indigene begegnen. „Das Betreten der Hotellobby ist für den Einheimischen eine kleine Reise, während es für den Reisenden den Übergang zur Destination markiert“, sagt Thaler. „Es gibt außer der Lobby keinen anderen Raumtyp, der halb in und halb außerhalb der Stadt ist.“Wer an dieser Stelle auch an die Bahnhofshalle denkt, liegt zwar nicht gänzlich falsch, ist aber aus der Zeit gefallen, denn die einstigen Kathedralen des Massenfernverkehrs präsentieren sich heute als grell ausgeleuchtete Einkaufszentren mit gut verstecktem Zugang zu den Bahnsteigen.
Ein imaginiertes, in sich geschlossenes Universum aus futuristischen Innenräumen.
Radikal gegen Rankings. Aus diesem Halb-Drinnen-Halb-Draußen folgt die zweite Erkenntnis: Eine gute Lobby muss unterschiedliche Zwecke erfüllen, um beide Zielgruppen anzusprechen. Für den erschöpften und von den Eindrücken der fremden Stadt überwältigten Neuankömmling ist sie Ruheoase und Rückzugsort, für den unternehmungslustigen Einheimischen hingegen Treffpunkt und weltläufige Kulisse für anregende Gespräche – gern bei dem einen oder anderen Drink an der Bar.
Während Touristen ihre Unterkunft im Normalfall nicht nach der Ausgestaltung des Vestibüls aussuchen, verhält es sich bei den Städtern genau umgekehrt. Es gibt Hotellobbys, die bei den Einheimischen beliebter sind als andere – wegen der Lage, wegen der Innenausstattung, oder wegen des Barmanns.
Er selbst will sich in dieser Hinsicht allerdings nicht